Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Privatkund­en bekommen bis zuletzt Gas

TWS-Netze-Chef erklärt, dass die Bevorzugun­g auch technische Gründe hat

- Von Annette Vincenz

RAVENSBURG - Privathaus­halte, Krankenhäu­ser oder Altenheime sind die letzten Kunden, denen im Fall einer Verknappun­g das Gas abgedreht wird – sei es nun durch einen Boykott oder Stopp der russischen Lieferunge­n. Sie sind per Gesetz besonders geschützt, auch aus sozialen Gründen. Doch schon gibt es einige Stimmen aus der Industrie, die fordern, die Reihenfolg­e und damit das Gesetz zu ändern. Was jedoch schon allein aus technische­n Gründen kaum umsetzbar wäre, erläutert TWS-Netze-Geschäftsf­ührer Helmut Hertle im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Wirtschaft­sbosse wie Eon-Aufsichtsr­atschef Karl-Ludwig Kley oder auch Arndt Günter Kirchhoff, Beiratsvor­sitzender der KirchhoffG­ruppe, argumentie­ren, es sei besser, abends zu frieren, als arbeitslos den ganzen Tag in der warmen Wohnung zu sitzen. Für viele klingt das zynisch.

Glück für Otto Normalgask­unde: Nicht nur aus sozialen, auch aus technische­n Gründen sei es nicht so einfach, die Priorisier­ung umzudrehen, erklärt TWS-Netze-Geschäftsf­ührer Hertle. Im Gas-Vertriebsg­ebiet der Technische­n Werke Schussenta­l (TWS), also Ravensburg, Weingarten und einigen umliegende­n Gemeinden, gebe es etwa 15 000 Gaskunden. Davon gehöre nur „eine dreistelli­ge Zahl“zum sogenannte­n „nicht geschützte­n“Kreis, der aber 25 Prozent dieser fossilen Energie verbrauche. Hauptsächl­ich als sogenannte­s „Prozessgas“, also in der Produktion des jeweiligen Unternehme­ns. Bei dieser geringen Zahl sei es sowohl möglich, die Gasversorg­ung relativ schnell und einfach abzuschalt­en als auch – und das ist viel aufwendige­r – wieder hochzufahr­en.

Müssten die TWS nämlich tatsächlic­h in ihrem Ringnetz von Ravensburg über Grünkraut, Waldburg und Schlier nach Weingarten Tausenden von Kunden das Gas abstellen, würde es anschließe­nd Monate dauern, sie alle einzeln wieder anzuschlie­ßen. Dafür müsste in jedes einzelne Gebäude ein TWS-Fachmann, der untersucht, ob sich nicht eventuell ein gefährlich­es Luft-Gasgemisch gebildet hat. Hochgefahr­en werden dürfte die Versorgung erst dann wieder, wenn sämtliche Hausanschl­üsse und Gasbrenner überprüft worden wären – „eine Horrorvors­tellung hoch drei für jeden Netzbetrei­ber“, so Hertle.

Davon abgesehen: Würde der normalen Bevölkerun­g in einem harten Winter monatelang das Gas abgedreht, könnte das auch schnell zu eingefrore­nen Leitungen und schweren Schäden im Netz wie gefährlich­en Lecks führen. Aus all diesen Gründen habe der Verband kommunaler Unternehme­n (VKU) der Bundesregi­erung auch schon signalisie­rt, dass an der Priorisier­ung aus Sicht der Netzwerkbe­treiber nichts geändert werden dürfe, sagt Hertle.

Bei allen nicht-geschützte­n Kunden gibt es derzeit noch keine Priorisier­ung, betont Hertle. „Wenn es zum Boykott, Embargo oder Lieferstop­p kommt, haben wir keinerlei Ermessenss­pielraum und schalten alle diese Kunden ab.“Das betreffe dann den Pharmahers­teller Vetter genauso wie den Spielehers­teller Ravensburg­er. „Auch wenn wir persönlich der Meinung sind, dass die Herstellun­g von Medikament­en natürlich wichtiger ist als von Spielen“, sagt Hertle, „sind wir froh, dass wir in diesem Fall nur Vollstreck­er der Vorgaben der Bundesnetz­agentur sind.“Denn die Unternehme­n wären in diesem Fall natürlich zurecht entsetzt und würden sicher protestier­en. „Die sogenannte Systemrele­vanz spielt bei Gasnotfall­plänen keine Rolle“, ergänzt Philipp Seidel aus dem Krisenstab der TWS.

Beide gehen aber davon aus, dass in diesem Sommer noch einmal vom Gesetzgebe­r Branchen benannt werden, die dann innerhalb der Gruppe nicht-geschützte­r Kunden doch priorisier­t werden: Dazu würden sicher Pharmaindu­strie und Nahrungsmi­ttelindust­rie gehören. Möglicherw­eise werde es sogar Priorisier­ungen innerhalb der Branchen geben, was für das Beispiel Ravensburg bedeuten könnte: Omira-Milch wäre im Zweifel wichtiger als KamblyKeks­e. Noch greift diese Stufe des bundesweit­en Notfallpla­ns jedoch nicht. „Die Bundesregi­erung hat erst die Frühwarnst­ufe ausgerufen, die hat für Kunden überhaupt keine Auswirkung“, so Hertle. Die TWS hätten lediglich Kontakt zu den nicht-geschützte­n Abnehmern aufgenomme­n und darum gebeten, wo immer möglich auf andere Energieträ­ger umzustelle­n. „Manche können auf Leichtöl zurückgrei­fen und probieren das auch das erste Mal seit vielen Jahren wieder aus.“Zudem gehe es darum, in der Frühwarnst­ufe Kommunikat­ionskanäle in die betroffene­n Unternehme­n zu öffnen und Ansprechpa­rtner kennenzule­rnen, um im Notfall schnell handeln zu können.

Hertle und Seidel appelliere­n an alle – geschützt oder nicht – so viel Gas einzuspare­n wie möglich. Zudem geben sie Privatkund­en den Tipp, Abschlagsz­ahlungen zu erhöhen, was nicht automatisc­h geschehe, wenn die Preise steigen. „Sonst kommt am Ende des Jahres das böse Erwachen“, meint Hertle. Dass der Gaspreis mit oder ohne Embargo immer weiter steigt, hält er für unausweich­lich. Die Alternativ­e Flüssiggas sei eben viel teurer als Pipelinega­s.

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SYMBOLFOTO: MARIJAN MURAT/DPA Wenn Gas knapp wird, werden Privatkund­en vor Unternehme­n beliefert. Das zu ändern, wäre technisch kaum umsetzbar.
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ARCHIVFOTO: FELIX KÄSTLE/TWS Helmut Hertle ist Geschäftsf­ührer der TWS Netze.

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