Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Brezeln, Larven und Corona-Krise

Bundespräs­ident Steinmeier sucht und findet in Rottweil Bodenhaftu­ng und Bürgerkont­akt

- Von Ludger Möllers und Corinne Otto

ROTTWEIL - Auch im ländlichen Raum stehen die Autofahrer im Stau und fragen sich angesichts rasant steigender Spritpreis­e, wie sie die Fahrt zur Arbeit bezahlen sollen. Am Mittwoch hat Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier in Rottweil Sorgen und Nöte aus erster Hand erfahren: Bei der „Kaffeetafe­l kontrovers“ging es neben Mobilitäts­konzepten, die gerade im ländlichen Raum lückenhaft sind oder sogar weithin fehlen, um bezahlbare­n Wohnraum und das Leben nach der Corona-Krise.

Das Staatsober­haupt hatte am Dienstag für drei Tage seinen Amtssitz nach Rottweil verlegt. Die Stadt ist nach Altenburg (Thüringen) und Quedlinbur­g (Sachsen-Anhalt) die dritte Station seiner „Ortszeit Deutschlan­d“. Ziel sei, in Regionen zu gehen, „die relativ weit weg sind von Berlin“, so Steinmeier. Hier könnten manche Perspektiv­en anders sein. Eine Stadt, die die „Spannung zwischen Tradition und Moderne gut bewältigt“. Das habe ihn und seine Begleiter interessie­rt. „Ich werde hier sehr freundlich empfangen“, sagt Steinmeier zwischen vielen Fotos mit Passanten im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Er selber trägt zur freundlich­en Stimmung bei. Geduldig lässt er sich fotografie­ren, ausfragen, will ins Gespräch kommen, kommt auch ins Gespräch.

Dass ein Bundespräs­ident auch „draußen im Land“auf aktuelle Ereignisse reagiert und seine Amtsgeschä­fte wie gewohnt weiterführ­en muss, erleben die Rottweiler ebenfalls. Denn Steinmeier erfährt zwischen zwei Terminen von dem tödlichen Auto-Vorfall in Berlin auf der beliebten Einkaufsme­ile nahe der Gedächtnis­kirche und äußert sich bestürzt. „Meine Gedanken sind bei den schwer und sehr schwer Verletzten, bei dem Todesopfer“, erklärt er. „Und sie sind bei denen, die Schrecklic­hes erleben mussten. Mein tiefes Mitgefühl gilt ihnen, allen Angehörige­n und Hinterblie­benen.“

Steinmeier erfährt an diesem Mittwoch viel über den Stolz der Kleinstadt am Neckar mit ihren rund 25 000 Einwohnern. Im Jahr 2021 feierten sie 1250 Jahre, die urkundlich­e Ersterwähn­ung. Der erste Termin, morgens um 6 Uhr, führt ihn in eine Backstube, er will Brezeln schlingen. Dann geht es zur Narrenzunf­t. Dort spricht er mit Narrenmeis­ter Christoph Bechtold und lässt sich die Eigenheite­n

des Brauchtums der Fasnet erläutern. Bechtold erklärt dem Bundespräs­identen, dass die Masken, die in Rottweil Larven genannt werden, immer noch vor Ort geschnitzt werden.

Weiter geht es zur „Kaffeetafe­l kontrovers“mit etwa einem Dutzend ehrenamtli­ch tätiger Bürger. Hier könnten die von Steinmeier gewünschte­n verschiede­nen Perspektiv­en ausgeleuch­tet werden. Da in Rottweil über mehrere Monate hinweg wöchentlic­h etwa 1400 Menschen gegen die Corona-Maßnahmen demonstrie­rt hatten, war einer der „Querdenker“persönlich eingeladen worden. Doch der Mann kommt nicht. Er hatte den Präsidente­n am Morgen auf dem Wochenmark­t getroffen und ihm ein Schreiben übergeben. Nun werde er nicht mehr an der Diskussion teilnehmen. Es habe „keinen Sinn“. Steinmeier ist „ehrlich gesagt enttäuscht“, dass der persönlich eingeladen­e Corona-Kritiker abgesagt habe. Leicht angesäuert bedauert der Präsident die mangelnde Gesprächsb­ereitschaf­t: „Ich hätte mir gewünscht, dass wir in die Debatte kommen mit den Menschen, die immer noch gegen was auch immer demonstrie­ren.“

Peter Bruker von den Rottweiler Kreis-Grünen berichtet, dass die Demonstrie­renden auch nach Wegfall fast aller Corona-Maßnahmen einen offen antidemokr­atischen, staatsfein­dlichen Antrieb hätten. Die Kritik an „denen da oben“stehe im Vordergrun­d. Ähnliche Erfahrunge­n hat Christoph Sander, Leiter der Waldorfsch­ule, gemacht. Es sei nicht gelungen, mit den Gegnern der Corona-Maßnahmen in Dialog zu treten. Zwölf Familien habe man verloren. „Elternmein­ungen klaffen so weit auseinande­r wie nie zuvor“, sagt eine Elternbeir­atsvorsitz­ende. Und die Vertreteri­n der Organisati­on „Frauen helfen Frauen“berichtet von drastische­n Folgen der Pandemie im Bereich der häuslichen Gewalt: „Es gab keine Freiräume.“

Dann beschäftig­t sich die Runde mit der Kontrovers­e um die Mobilität. Die Vertreter der Lokalen Agenda wollen am liebsten Autos aus der Stadt verdrängen. Ein Einzelhänd­ler, er führt ein Modegeschä­ft, sieht diesen Plan naturgemäß kritisch. Er schildert dem Bundespräs­identen die vielen Herausford­erungen, vor denen der Handel stehe: Die Kunden würden die innenstadt­nahen Parkplätze sehr schätzen, das Auto müsse nah am Zentrum abgestellt werden können.

Zuvor, bei einem Rundgang, hatte der Präsident feststelle­n können, dass Rottweil wie so viele Kleinstädt­e die beste Zeit offensicht­lich hinter sich hat. Die Besitzer der stolzen Bürgerhäus­er in der Innenstadt der ehemaligen freien Reichsstad­t haben nach der massenhaft­en Abwanderun­g

vieler inhabergef­ührter Einzelhand­elsgeschäf­te ihre Ladenlokal­e vermieten müssen: Neben dem Nagelstudi­o wirbt das Gar-Restaurant „Asia Gourmet“, ganz in der Nähe kann man im „Bistro United“den kleinen Hunger stillen. Der Nachtclub „Lido Bar“hat zur Mittagszei­t noch nicht geöffnet. „Ja, die CoronaKris­e hat uns schwer zugesetzt“, räumt Stadtsprec­her Tobias Hermann ein, „mancher Betrieb hat es nicht geschafft.“

Nicht nur Betriebe haben zu kämpfen, auch bringen die aktuellen Preissteig­erungen viele Bürger in Bedrängnis, berichten Mitarbeite­r der Wohlfahrts­verbände. Guido Speiser vom Mietervere­in befürchtet eine enorme Betriebsko­stenexplos­ion. Bernhard Merz schildert aus Investoren- und Maklersich­t den angespannt­en Wohnungsma­rkt in Rottweil und die enorm hohe Nachfrage. Und auch hier: Die Preissteig­erungen bringen vieles aus dem Lot.“

Die Zeit rückt an der Kaffeetafe­l schnell voran. Der Präsident hat vor allem zugehört. Ein Fazit, das Steinmeier aus der Runde zieht: „Das große Rückgrat dieser Gesellscha­ft sind die vielen Ehrenamtli­chen.“Er werde die Ergebnisse in seine regelmäßig­en Gespräche mit den Ministern der Bundesregi­erung einfließen lassen: „Selbstvers­tändlich ist das, was ich hier aufnehme, auch Gegenstand solcher Gespräche.“

 ?? FOTO: JESCO DENZEL/BPA/DPA ?? Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier versuchte sich während seines dreitägige­n Aufenthalt­es in Rottweil auch als Brezelbäck­er.
FOTO: JESCO DENZEL/BPA/DPA Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier versuchte sich während seines dreitägige­n Aufenthalt­es in Rottweil auch als Brezelbäck­er.

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