Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Vom Ringen mit der Natur
Um den Menschen und seine Umwelt geht es in einer Lesung auf dem Schaufelraddampfer Hohentwiel – Hinter den Zeilen verbirgt sich die Klimakrise
Feine Ironie, einen Literaturabend über das Verhältnis von Mensch und Natur auf einem restaurierten Dampfschiff zu veranstalten. Der Schaufelraddampfer Hohentwiel – rund 56 Meter lang, der Salon im Inneren mit getäfelten Holzwänden, der Ausblick über Alpen und See auf dem Sonnendeck phänomenal – hatte seine Jungfernfahrt bereits 1913. Heute erstrahlt das Schiff in restauriertem Glanz und lädt zu allerlei Kultur- und Vergnügungsfahrten ein.
Für Teile des Publikums beim „Literaturschiff“im Rahmen des Bodenseefestivals 2022 könnte die mit einem schlechten Gewissen einhergehen, ernährt sich die Hohentwiel doch von Heizöl. Zwar extraleicht, und damit immerhin besser als die Kohle, die bis in die frühen 1960erJahre zum Einsatz kam – aber eben doch ein fossiler Brennstoff. Und der Einsatz dieser Stoffe ist, zumindest wenn es nach der überwältigenden Mehrheit der seriösen Klimawissenschaftler geht, hauptursächlich für den rasanten Anstieg der Temperatur auf unserem Planeten.
Um mehr als 40 Prozent hat die atmophärische Konzentration von Kohlendioxid seit Beginn der Industrialisierung zugenommen, während sie die gesamte Zivilisationsgeschichte zuvor mehr oder weniger konstant war. Gift für menschenfreundliches Klima: Je nachdem, welche durchgerechneten Szenarien letztendlich eintreten, könnte in wenigen Jahrzehnten ein normales Leben in manchem Erdteil bereits unmöglich sein.
Womit wir beim ersten Buch an diesem Abend wären: Autor und Lektor Hans-Jürgen Balmes liest aus „Der Rhein. Biographie eines Flusses“. Über sechs Jahre bereiste Balmes immer wieder den heute einigermaßen gesunden, aber immer noch in ein enges, menschengemachtes Korsett gezwungenen, mythischen Fluss Deutschlands. Mit feinem Witz erzählt er von seiner Liebe zum Rhein, „mit diesem Fluss hatten wir ein tiefes Mitgefühl“. Damals, in den 70er-Jahren des vergangenen, fossilen Jahrhunderts war der Rhein nicht mehr als eine Müllkippe unserer industrialisierten Gesellschaft. Eine giftige Brühe, die Loreley hätte ein Bad in diesem Fluss wohl nicht überlebt.
Auch der See, auf dessen sanften, grünblau in der Abendsonne funkelnden Wellen die altehrwürdige Hohentwiel schaukelt, wird vom Rhein gespeist. Der Autor setzt sich in dieser poetischen Kulturgeschichte auf der Suche nach des Flusses Seele einer zwar gezähmten, aber deshalb keineswegs ungefährlichen Natur aus. Etwa, wenn er mit seinem Faltboot die Macht des trügerisch-träg dahinfließenden Stromes unterschätzt und den Fluten trotzen muss, „hätte ich nur auf Leonardo (da Vinci, die Red.) gehört, das Wasser bewegt sich kreuz und quer.“
Wasser spielt ebenfalls eine Rolle im Roman „Aufruhr der Meerestiere“ von Marie Gamillscheg. Die Österreicherin erzählt darin von der Meeresbiologin Luise, ihrer fortwährenden Auseinandersetzung mit der Meerwalnuss, mit sich selbst und ihrer Vergangenheit. Die Meerwalnuss ist eine invasive Quallenart, die sich im Laufe des Werks – so lässt es zumindest die Lesung erahnen – zu einer Katastrophe globalen Ausmaßes entwickeln wird. Ein nicht leicht fassbares Werk, getragen von starker Prosa. Gedanken und Begebenheiten vermischen sich, manches bleibt uneindeutig. So wie der Klimawandel, dessen auf Jahrzehnte und Jahrhunderte wirkende Folgen und Verläufe ebenfalls das menschliche Denken, gewohnt in Tagen, Wochen, vielleicht wenigen Jahren zu operieren, schnell an Grenzen bringt.
Irgendwann im Roman – vielleicht auch nur in Luises Gedanken? – wird die Meerwalnuss so zahlreich, dass sie das Meer bedeckt. Die Qualle bringt den Schiffsverkehr zum Erliegen, sie verursacht Schäden, die zu Kriegen führen. „Die Quallen kümmerte das nicht.“Die Meerwalnuss als Verkörperung der Klimakrise. Auch diese wird es nicht kümmern, stürzen Massenmigration oder Kriege um Wasserquellen unsere Gesellschaften ins Chaos.
Gamillscheg trägt mit präzisen Sprechpausen und großer Präsenz vor. „Da ist ein Aufruhr in den Ozeanen, von dem niemand wissen will“ist sowohl wörtlich als auch auf das Innere Luises gemünzt zu verstehen. Und manche im Publikum dachten vielleicht an den Aufruhr in unserer Atmosphäre oder den Permafrostböden. Wobei viele immer noch glauben, es werde schon gut gehen, irgendwie.
Die Wurzel allen Übels liegt dabei in der Überheblichkeit, mit der die Menschheit sich an die Unterwerfung der Natur machte. Die begann mit der zunehmenden Bedeutung von Empirie und Wissenschaft, gemeinhin der Aufklärung. Ein prominenter Aufklärer des späten 18. Jahrhunderts, Georges-Louis Leclerc de Buffon, formuliert es in seiner Histoire naturelle so: Der Mensch „befiehlt allen Geschöpfen“. Seine Wissenschaft
erlaubt es ihm, „eine neue Natur“zu erschaffen.
Seither bilden Statistiken, Formeln und Diagramme das Fundament schier unendlichen Wachstums. Naturräumen wird Wert zugewiesen, sie werden ausgebeutet und schließlich zerstört. Aktuell ist das etwa am Amazonas im Brasilien des rechtsnationalistischen Präsidenten Jair Bolsonaro zu beobachten: Für den schnellen Profit und Verlockungen des Wohlstandes wird der Regenwald immer weiter zerstört – was für Folgen die drohende Auslöschung dieses grünen Gürtels auf uns alle haben wird, weiß niemand.
Von Ausbeutung und Zerstörung, vom Sein in der Natur weiß auch Jakob zu erzählen, Hauptfigur des Romans „Wilderer“von Reinhard Kaiser-Mühlecker. Der Autor greift darin die Motive früherer Werke auf: Jakob, der als Landwirt ein hartes Leben auf dem Bauernhof seiner Familie führt, voller Engstirnigkeit und Vorurteile, muss eines Tages selbst die Verantwortung übernehmen. Er stellt den Hof auf Biolandbau um und gründet mit der Kunststipendiatin Katja schließlich eine eigene Familie. Nur seinem furchtbaren Jähzorn kann Jakob nicht entkommen. Mühleckers Sprache ist dunkel gefärbt, jedes Wort sitzt, sie hat eine ganz eigene Wirkmächtigkeit. Jakob plagt sein Dasein, „er spürte wie der Wunsch nach einem Krieg in ihm erwachte“.
Im Gegensatz zu den harten Worten trägt Mühlecker fast weich vor, auch als er vom Kampf Jakobs mit einem Fluss um seinen Hund erzählt. Der Protagonist bleibt ein Verstörter, er leidet unter den vielen Ambivalenzen der bäuerlichen Lebensweise in Oberösterreich: Es geht um Herkunft und existenzielle Verlorenheit in einer agraren Welt, die sich radikal wandelt. Nicht nur klimatisch, sondern auch ökologisch, ökonomisch und moralisch. Die Natur ist hier nicht nur Ernährer und Sehnsuchtsort, sie ist auch Last und Zerstörer.
Der literarische Abend an Bord der Hohentwiel wird den Zuhörern im Gedächtnis bleiben. Darauf weisen die drei gebannt verfolgten Lesungen, höchstens unterbrochen von Geräuschen aus der Küche oder der 950 PS starken Verbunddampfmaschine, deren offene Kurbelwelle von oben bewundert werden kann, hin. Auch die Maschine passt wunderbar in die Symbolik dieses Abends: Zeugnis menschlichen Erfindungsgeistes, der das moderne Leben mit all seinem Komfort und Wohlstand erst ermöglicht hat. Und es nun bedroht. Wie sagte bereits der große Entdecker und Forscher Alexander von Humboldt? „Alles hängt mit allem zusammen.“
Hans-Jürgen Balmes: Der Rhein. Biographie eines Flusses, 560 S., 28 Euro. Marie Gamillscheg: Aufruhr der Meerestiere, 304 S., 22 Euro. Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer, 352 S., 24 Euro