Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Friedensforscher rechnen mit mehr Atomwaffen
Risiko einer nuklearen Konfrontation hat sich mit dem Krieg in der Ukraine erhöht
STOCKHOLM (dpa) - Nach einem jahrzehntelangen Rückgang könnte die Zahl der Atomwaffen in der Welt nach Schätzung von Friedensforschern bald erstmals wieder steigen. Trotz einer leichten Verringerung der globalen Gesamtzahl nuklearer Sprengköpfe auf zuletzt schätzungsweise 12 705 rechnet das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri in seinem am Montag veröffentlichten Jahresbericht damit, dass die Arsenale im Laufe des kommenden Jahrzehnts wieder größer werden.
„Es gibt eindeutige Anzeichen dafür, dass die Verringerungen, die die globalen Atomwaffenarsenale seit dem Ende des Kalten Krieges charakterisiert haben, beendet sind“, sagte der Sipri-Experte Hans M. Kristensen. Ohne sofortige und konkrete Abrüstungsschritte der neun Atomwaffenstaaten könnte der globale Bestand nuklearer Waffen bald erstmals seit dem Kalten Krieg wieder größer werden, warnte sein Kollege Matt Korda. Das Risiko einer nuklearen Konfrontation hat sich nach Angaben der Friedensforscher durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erhöht.
Die neuen Sipri-Daten beziehen sich auf den Januar 2022. Einen Monat später marschierte Russland in die Ukraine ein. Noch sei es etwas zu früh für Rückschlüsse, wie sich der russische Angriffskrieg letztlich auf die atomare Lage in der Welt auswirken werde, sagte Kristensen. Einen indirekten Effekt sieht er aber schon jetzt: „Die Russen sehen, dass ihre konventionellen Streitkräfte nicht so gut sind, wie sie dachten.“Deshalb dürfte sich Russland wahrscheinlich künftig stärker auf taktische Atomwaffen verlassen. Die Nato reagiere auf den Krieg, indem sie die Bedeutung ihrer Atomwaffen herausstelle.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte die Atomwaffen des Landes als Warnung an die Nato in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen lassen. Mitten im Krieg gegen die Ukraine ließ er Ende April als Machtdemonstration eine neue ballistische Interkontinentalrakete vom Typ Sarmat testen. Putin sagte, dass es noch auf lange Zeit nichts geben werde auf der Welt, was der Rakete ebenbürtig sei.
Russland (5977) und die USA (5428) verfügen Sipri zufolge gemeinsam nach wie vor über rund 90 Prozent aller Atomsprengköpfe in der Welt.