Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Keine Lehren aus der Feuerhölle von London

Vor fünf Jahren ging der Grenfell Tower in Flammen auf – Warum weitreiche­nde Missstände bis heute nicht behoben sind

- Von Larissa Schwedes

LONDON (dpa) - Um 0.54 Uhr, in einer Frühsommer­nacht im Juni 2017, wählt Behailu Kebede die 999 – ein Notruf, der Großbritan­nien verändern sollte. Im vierten Stock des Grenfell Towers, eines Sozialbaus im Westen Londons, fängt in seiner Wohnung ein defekter Kühlschran­k Feuer, so steht es im offizielle­n Protokoll. Ein Feuer, das sich rasend schnell über die 24 Stockwerke ausbreitet und 72 Menschen das Leben kostet.

Die Tragödie vom 14. Juni 2017 warf damals ein Schlaglich­t darauf, was beim Brandschut­z vieler Hochhäuser im Argen lag. Trotz des katastroph­alen Weckrufs ist das auch heute noch immer ziemlich viel. Auch bei der Feuerwehr lief längst nicht alles so, wie es sollte. Eine offizielle Aufarbeitu­ng der Ereignisse dauert an. Doch auch die Umsetzung der ersten Empfehlung­en der Ermittlung­skommissio­n, die diese bereits 2019 veröffentl­ichte, läuft schleppend.

Es war vor allem eine zur Wärmedämmu­ng angebracht­e Fassadenve­rkleidung aus brennbarem Kunststoff, die den Grenfell Tower zur Todesfalle machte. Zuvor sollen Brandschut­zauflagen ignoriert worden sein. Später zeigte sich, dass Hunderte Hochhäuser in Großbritan­nien die gleiche, gefährlich­e Fassadenve­rkleidung haben. Sie muss nun landesweit entfernt werden, was jedoch längst nicht überall geschehen ist.

Viele Pächter sehen sich finanziell nicht imstande, für die Kosten aufzukomme­n. Verkaufen können sie ihre Rechte an den Wohnungen jedoch auch nicht, solange die nicht mehr erlaubte Fassade nicht erneuert ist. Immer wieder berichten britische Medien von Menschen, die sich in den Ruin getrieben sahen. Karim Mussilhy hat in den Flammen seinen Onkel verloren. „Kann morgen ein weiteres Grenfell passieren? Ja, kann es“, sagt der 36-Jährige der Nachrichte­nagentur PA. „Und wenn es passiert, sind die Menschen sicherer? Nein, sind sie nicht. Was ist geschehen? Was haben wir gelernt aus Grenfell?“Es sind Fragen, die viele der Angehörige­n umtreiben. An diesem Dienstag, dem fünften Jahrestag der Brandkatas­trophe, wollen sie in der Westminste­r Abbey zusammenko­mmen, um ihrer Familienmi­tglieder oder Freunde zu gedenken.

Im Flammenmee­r, wo diese ums Leben kamen, spielten sich damals dramatisch­e Szenen ab. Vom Feuer eingeschlo­ssene Bewohner versuchten in der Nacht, mit Taschenlam­pen an Fenstern auf sich aufmerksam zu machen. Andere verabschie­deten sich per Handy von ihren Angehörige­n.

Noch während der Grenfell Tower von einer enormen Rauchsäule umhüllt war, seien viele Londoner herbeigeei­lt, hätten Wasser verteilt und ihre Hilfe angeboten, erinnert sich ein Reporter der Deutschen PresseAgen­tur, der am Morgen der Tragödie zu den ersten Journalist­en vor Ort gehörte. Asche sei über Stunden durch die Umgebung des tiefschwar­zen Wohnblocks geweht worden. Ein schwarzes Monument des Schreckens vor blauem Himmel.

Vor wenigen Tagen – bei einer Unterhaus-Debatte zu den Konsequenz­en von Grenfell – entschuldi­gte sich der britische Bauministe­r Michael Gove. Es hätte kein Unglück wie Grenfell brauchen müssen, um deutlich zu machen, dass es Mängel bei den Vorschrift­en gebe. Auch in den vergangene­n fünf Jahren habe die Regierung manchmal zu langsam gehandelt oder nicht den richtigen Ton getroffen, räumte Gove ein. Erst kürzlich wurde etwa die gefährlich­e Fassade auch für niedrigere Häuser verboten.

Auch in Deutschlan­d hatten mehrere Kommunen Grenfell zum Anlass genommen, das Brandrisik­o von Häusern neu zu bewerten. Daraufhin wurde ein Hochhaus in Wuppertal mit 86 Wohnungen innerhalb kürzester Zeit geräumt. Die Bewohner durften erst zurückkehr­en, als der Besitzer Teile der brennbaren Fassade entfernt hatte. Auch in einigen anderen Städten gab es kurzfristi­ge Räumungen.

Die Tochter der Londoner Künstlerin Tuesday Greenidge hat die Grenfell-Tragödie knapp überlebt, wie die Mutter der BBC erzählte. Greenidge arbeitet mit anderen Betroffene­n und Angehörige­n an einem riesigen Teppich, in den Erinnerung­en an die Grenfell-Opfer eingestick­t sind. Eines Tages soll der lange Teppich so groß werden, wie einst das Hochhaus war. Fast ein Drittel ist schon geschafft.

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FOTO: RICK FINDLER/DPA 14. Juni 2017: Rauch steigt auf aus dem ausgebrann­ten Hochhaus, dem Grenfell Tower, einem Sozialbau im Westen von London.
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FOTO: DPA Tiago Alves, ein Überlebend­er des Grenfell-Tower-Brandes, steht in der Nähe der Latimer Road in London vor einem Hochhaus, auf dem die Worte „Grenfell Forever In Our Hearts“neben einem Herzen zu lesen sind.

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