Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Argusaugen sollen bei Ermittlungen helfen
„Super-Erkenner“sind Polizeimitarbeiter, die sich extrem gut Gesichter merken können
RAVENSBURG - Christine Hut ist eher ein ruhiger Typ: Sie spricht nicht übermäßig viel – lieber beobachtet sie andere Leute. Dass sie sich extrem gut merken kann, wen sie gemustert hat, war der 31-Jährigen bisher nicht wirklich bewusst. Erst durch eine groß angelegte Aktion ihres Arbeitgebers kam Huts außergewöhnliche Fähigkeit ans Tageslicht: In den vergangenen Monaten wurden unter den Mitarbeitern des Polizeipräsidiums Ravensburg systematisch sogenannte Super-Recognizer (auf Deutsch: Super-Erkenner) gesucht. Deren Argusaugen sollen künftig bei Ermittlungen entscheidende Hinweise liefern.
„Ich fand das Projekt spannend und wollte sehen, wie ich abschneide“, sagt Hut. 80 Prozent der insgesamt 1300 Mitarbeiter des Ravensburger Polizeipräsidiums haben die Eignungstests gemacht. Weil nur ein bis zwei Prozent der Menschen sich Gesichter überdurchschnittlich gut und lange merken können, sind aber auch in Oberschwaben die meisten durchgefallen. Am Ende blieben grade mal fünf Männer und 15 Frauen mit dieser angeborenen Begabung übrig. Denn der Test hatte es in sich.
So sollten die Probanden etwa Leute von der Seite wieder erkennen, nachdem sie diese zunächst frontal gesehen hatten. Oder eine Woche später jemanden identifizieren, der inzwischen gealtert war, ein Käppi trug oder eine andere Frisur hatte. Zudem herrschte auf den Videosequenzen teilweise ziemlicher Trubel.
Wie hat Hut es geschafft, trotzdem bestimmte Personen abzuspeichern? „Das meiste passiert intuitiv“, sagt sie mit leichtem Lächeln. Und versucht, zu erklären, was da in ihr abläuft: „Ich schau auf den Haaransatz, die Wangenknochen, auf Falten, das Kinn, einen Leberfleck, oder auf welcher Höhe sich die Ohren befinden.“
Fest steht: Diese besondere Fähigkeit kann man sich nicht aneignen – man hat sie, oder eben nicht. Dass es Menschen gibt, die andere unheimlich gut wiedererkennen, haben Wissenschaftler der Universität Greenwich 2009 zufällig entdeckt. Eigentlich zielte ihre Forschung auf Menschen ab, die gar keine Gesichter erkennen können und darunter sehr leiden, wie der Ravensburger Kriminaldirektor Michael Schrimpf erläutert.
Mittlerweile setzt nicht nur Scotland Yard Super-Recognizer ein, auch hierzulande sollen deren Kompetenzen
in die polizeilichen Ermittlungen einfließen: In Stuttgart, Konstanz oder Frankfurt wurden bereits welche ausgebildet. Nun wird auch im Ravensburger Polizeipräsidium eine entsprechende Stelle eingerichtet. Der zuständige Mitarbeiter soll dann die Super-Recognizer koordinieren. Denn sie bleiben auf ihren bisherigen Posten – sei es im Streifendienst, bei der Kripo, als Hundeführer oder (wie Christine Hut) in der Pressestelle. Werden ihre Adleraugen gebraucht, ruft man sie zum Spezialeinsatz.
Noch gab es den allerdings nicht. Denkbare Einsatzgebiete sind etwa Diebstähle oder andere Vergehen, von denen Videomaterial existiert – der Raubmord am Ravensburger Bahnhof im Februar 2021 wäre ein solcher Fall gewesen. Denn ein Recognizer kann Personen auch auf schlechten oder verschwommenen Videos identifizieren. Prägt ein Recognizer sich nach einem Video etwa einen Dieb ein, könnte es passieren, dass er diesen auf Streife trifft, erkennt und man dem Täter dadurch auf die Schliche kommt, entwirft Schrimpf ein mögliches Szenario.
Auch bei Klimademonstrationen oder Fußball- beziehungsweise Eishockeyspielen, bei denen Krawalle zu erwarten sind, könnten Recognizer wertvolle Dienste leisten, indem sie sich einprägen, wer über die Stränge schlägt. In Stuttgart wurden die dortigen Super-Recognizer etwa nach Sichtung von Videos der Krawalle im Jahr 2020 in der Innenstadt losgeschickt, um Tatverdächtige aufzuspüren. In Köln hatten sie dabei geholfen, die Vorgänge der Silvesternacht 2015 aufzuklären, indem sie Videos und Bilder dazu auswerteten. Wobei Schrimpf auf Nachfrage betont: So lange Versammlungen friedlich bleiben, werde niemand auf diese Art und Weise überwacht. „Wir sind keine Spitzel oder Spione.“
Im Übrigen gilt: Erkennt ein Recognizer-Polizist jemanden wieder, kann man den potenziellen Täter deshalb noch nicht festnehmen. Auch gerichtlich verwertbar ist eine solche Aussage nicht. Dennoch verspricht sich der Ravensburger Polizeipräsident Uwe Stürmer von den 20 Kollegen „wichtige ergänzende Anhaltspunkte für die Verbrechensaufklärung“. Man sei froh, dass diese menschliche Fähigkeit nun in den Blick gerückt sei und wolle sie unbedingt nutzen. Christine Hut steht dafür parat: Sie findet den neuen Aspekt ihrer Arbeit interessant und hofft, dass sie immer wieder bei Ermittlungen helfen kann. An eines muss sie sich aber erst noch gewöhnen: Bekommt im privaten Umfeld jemand mit, was sie drauf hat, stößt das nicht nur auf Begeisterung. Stattdessen komme es immer wieder vor, „dass jemand grundlos Angst hat, ich könne ihn oder sie durchschauen“.