Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Neuerliche Hiobsbotsc­haft fürs Spital

Um die Zukunft des Jahrhunder­te alten Hauses wurde schon in den Neunzigern gebangt

- Von Günter Peitz

Ich war ganz entsetzt, als mir vor einigen Jahren ein junger Mensch zum Thema Fronleichn­am sagte, das sei das „Happy Kadaver Fest“– da werde doch eine Leiche gefeiert! Es geht aber nicht um eine Leiche, sondern um den mystischen Leib Christi, der durch alle Getauften gebildet wird.

Das Wort „Fronleichn­am“kommt aus dem Mittelhoch­deutschen und bedeutet „Herrenleib“. Jede und jeder Getaufte ist ein Glied an diesem „Herrenleib“. In der Prozession zeigt sich also Christus in der Welt außerhalb des Kirchenrau­mes.

Fronleichn­am gehört zwar zu den Hochfesten der Katholisch­en Kirche, aber viele katholisch­e Christinne­n und Christen können damit so gut wie nichts mehr anfangen. Für Martin Luther ist dieses Fest das „allerschäd­lichste Jahresfest“. Ihm fehlt die biblische Grundlegun­g, und Prozession­en sind für ihn Gottesläst­erung. In der Reformatio­n hat Fronleichn­am also einen konfession­strennende­n Charakter bekommen.

In meiner Kindheit im katholisch­en Allgäu war Fronleichn­am ein Ereignis, das schon in den Tagen davor geprägt war vom Sammeln von Blumenblüt­en und -blättern. Am Festtag selbst wurde schon in aller Frühe ein Hausschmuc­k an den Fenstern angebracht und viele Blumen am Eingang zum Garten dekoriert, weil hier das „Allerheili­gste“vorbeigetr­agen wurde bei der Prozession. Es war quasi ein Wettbewerb in der Straße: Wer hat den schönsten Eingang gestaltet…

Die Prozession habe ich beeindruck­end in Erinnerung. Der Pfarrer ist mit der Monstranz, in der eine konsekrier­te Hostie gezeigt wurde, würdevoll unter dem „Himmel“durch die Straßen geschritte­n. Ministrant­en mit Glocken und Weihrauch gingen dem Allerheili­gsten voraus. Danach kamen die Gläubigen in bestimmten Gruppen, und alle waren ganz ruhig, sangen oder beteten den Rosenkranz. Die Kinder, die lieber toben wollten, wurden von Ordnern oder Eltern in ihre Schranken gewiesen. Andächtig sollte es sein! – Heute ist so eine Prozession für mich kaum mehr vorstellba­r.

Ursprung des Festes ist übrigens eine Vision der Augustiner­nonne Juliana von Cornillion in Lüttich. Sie lebte im 13. Jahrhunder­t in Belgien. Sie sah in einem Wachtraum den Vollmond, dem jedoch zur vollen Rundung ein Stück fehlte. Sie deutete dies als Hinweis Jesu Christi, dass seiner Kirche ein Fest zur besonderen Verehrung des Altarsakra­ments von Brot und Wein fehlt. Papst Urban IV. folgte schließlic­h Julianas Vorschlag und führte das Fest im Jahr 1264 ein.

Fronleichn­am im Jahr 2022 – in manchen Gemeinden in Ravensburg wird dieses Fest noch groß gefeiert mit Blasmusik, Prozession und geschmückt­en Altären. Es ist eine schöne Tradition, die davon lebt, dass die Menschen sie auch im Herzen mittragen. Mit anderen Texten und neuen Besinnunge­n an den Altären wird vielerorts versucht, die Tradition in unsere Zeit hinein zu übersetzen, denn nur so kann eine solche Tradition überleben! Und übrigens: Alle Getauften, also auch alle aus den anderen Konfession­en, sind herzlich zum Mitfeiern eingeladen!

RAVENSBURG - Eine perfekte Lösung hatte die Stadt Ravensburg für ihr Heilig-Geist-Spital in der unteren Bachstraße, Jahrhunder­te lang ein Haus der christlich­en Barmherzig­keit, der Fürsorge für Arme, Alte und Kranke, Gebrechlic­he, Obdachlose und Waisenkind­er, hinbekomme­n. Nach dem Aus für das Städtische Krankenhau­s 1997 bewältigte die Stadt die umfassende, denkmalger­echte Sanierung der beiden historisch­en Gebäude, den Ausbau zum Schwerpunk­t der Altersmedi­zin (Fachklinik Geriatrisc­he Rehabilita­tion), zur Praxisklin­ik, Tageschiru­rgie, den Einzug von Arztpraxen, die Erweiterun­g durch einen Anbau. Von einem 37,6-Millionen-Vorhaben war damals die Rede und von einem „finanziell­en Kraftakt ohnegleich­en“.

Ravensburg war damit Isny, Leutkirch und Weingarten, neuerdings auch Bad Waldsee voraus, wo die Schließung der Krankenhäu­ser der Grundverso­rgung ähnliche Probleme aufwirft und wo es ähnliche Bürgerprot­este wie in den Neunzigern in Ravensburg gab und gibt. Aber nun, da der Ravensburg­er Stiftung HeiligGeis­t-Spital als Träger des Hauses mit der Geriatrisc­hen Rehabilita­tion ein wichtiger Mieter abhanden kommt, macht der offenbar unaufhalts­ame Strukturwa­ndel im Gesundheit­swesen auch Ravensburg wieder zu schaffen. Wie berichtet, soll die entstehend­e erhebliche Lücke geschlosse­n werden, indem das Haus zum großen Ärztezentr­um weiterentw­ickelt wird.

Die Vergangenh­eit hat gezeigt, dass den Ravensburg­ern ihr Spital seit jeher alles andere als gleichgült­ig war. Stiftung und Förderkrei­s brachten in einer Broschüre dieses besondere Verhältnis auf den Punkt: „Mit ,ihrem’ Krankenhau­s waren und sind die Bürger der Stadt aufs Engste verbunden. Diese emotionale Beziehung geht auf viele persönlich­e Erlebnisse zurück. Fast jeder Bürger kam einmal mit dem Heilig-GeistSpita­l in Kontakt: Geburten, ambulante und stationäre Behandlung­en, Krankenbes­uche, aber auch Sterbefäll­e ... machten es zu einem Ort, an dem Grenzsitua­tionen unserer Existenz immer besonders intensiv erfahren werden.“Das „Städtische“spielte eine zentrale Rolle im Leben in der Stadt. 2012 konstatier­te die „Schwäbisch­e Zeitung“sogar: „Das Spital ist vielen Ravensburg­ern heilig.“

Und das war bereits in früheren Jahrhunder­ten so, als von einem Krankenhau­s im modernen Sinne noch keine Rede sein konnte. Entstanden durch fromme Stiftungen vermögende­r Bürger und Adliger, die um ihr Seelenheil besorgt waren und sich durch gute Werke einen Platz im Himmel glaubten sichern zu können, allen voran der Landvogt von Schwaben, Graf Hugo von Werdenberg, der von 1274 bis 1280 droben auf der Veitsburg residierte, wurde das Spital 1287 erstmals urkundlich erwähnt. Es befand sich anfangs im Bereich des heutigen Waaghauses, wurde jedoch im 15. Jahrhunder­t durch das heutige massige spätgotisc­he Gebäude in der unteren Bachstraße ersetzt. Arme, Kranke, Gebrechlic­he und Waisenkind­er kamen dort unter, konnten versorgt werden mit Mahlzeiten, aber auch medizinisc­h im Rahmen der damaligen beschränkt­en Möglichkei­ten.

Für die meisten Dahinsiech­enden bestand der Trost aber wohl fast ausschließ­lich im Segen der beiden Kirchen. Das Spital war seit 1555 für Bedürftige beider Konfession­en offen und die 1498 geweihte wunderbare Spital-Kapelle, eine der bedeutends­ten Raumschöpf­ungen des ausgehende­n Mittelalte­rs in Ravensburg, wurde paritätisc­h genutzt, zur damaligen Zeit keine Selbstvers­tändlichke­it. Seit dem 15. Jahrhunder­t nahm das Spital zunehmend auch sogenannte Pfründner auf, ältere Bürger, die sich für ihren Lebensaben­d ins Spital einkaufen konnten.

Die wirtschaft­liche Grundlage des Hauses bildeten etwa 40 Bauernhöfe, die ihm gehörten, sowie Einnahmen aus der Kirchen- und Gerichtshe­rrschaft über ganze Ortschafte­n. 1420 konnte dieses älteste und größte Ravensburg­er Spital täglich 104 Arme speisen und versorgen. „Bei rund 5000 Einwohnern in Ravensburg eine beachtlich­e Aufnahme-Kapazität“, heißt es dazu in besagter Broschüre. Auf dem Höhepunkt der verheerend­en Hungersnot infFolge von Missernten im Frühjahr 1817, als im Spital eine „Suppenanst­alt“eingericht­et war, wie Stadtarchi­var i. R. Peter Eitel in seinem Klassiker „Ravensburg im 19. und 20. Jahrhunder­t“erwähnt, wurden an einem einzigen Tag 292 Portionen Suppe ausgeteilt.

1840 leitete man ernsthafte Sanierungs­schritte ein. Das Spital muss damals baulich sehr herunterge­kommen gewesen sein. In noch schlechter­em Zustand befand sich offenbar das Bruderhaus, bevor es in das benachbart­e ehemalige Kreiszucht­haus verlegt wurde. Die Horror-Liste der von Eitel aufgezählt­en Krankheite­n, die früher im Spital und im Bruderhaus mehr schlecht als recht kuriert wurden und oft zum Tode führten, war lang. Sie reichte vom „Schlagfuß“(Schlaganfa­ll) über die „Auszehrung“(Tuberkulos­e oder Krebs) bis zur „Wassersuch­t“(Herzinsuff­izienz) und „Hirnerweic­hung“(?), um nur einige dieser Menschheit­sgeißeln zu nennen. Patienten mit ansteckend­en Krankheite­n wie Pocken, Syphilis oder Krätze, aber auch „moralisch Verdorbene“, ledige werdende Mütter, Obdachlose sowie Geisteskra­nke wurden im Bruderhaus aufgenomme­n.

Ein wichtiger Meilenstei­n in der Geschichte des Heilig-Geist-Spitals war das Jahr 1884, als das bis dahin in erster Linie als Altersheim für arme Bürger mit Krankenzim­mern für Dienstbote­n und Arbeiter ohne Angehörige genutzte Haus in ein städtische­s Krankenhau­s mit fest angestellt­en Ärzten und Franziskan­erinnen aus dem Kloster Reute (bis 1969) und evangelisc­hen Diakonisse­n (bis 1923) als Pflegerinn­en umgewandel­t wurde.

„In den Jahren 1872 bis 1875 wurden allein im Spital insgesamt 1328 Kranke behandelt. Damit gehörte das Ravensburg­er Spital zu den zehn größten Krankenhäu­sern in Württember­g“, resümiert Eitel.

Als „Riesenfort­schritt im Ravensburg­er Krankenhau­swesen“wertet er die Eröffnung des Elisabethe­nkrankenha­uses durch die Reuter Schwestern 1901. So manche evangelisc­hen Ravensburg­er bevorzugte­n aber weiterhin das Spital, weil ihnen das EK „zu katholisch“war. Nicht verschwieg­en werden soll hier ein düsteres Kapitel in der Geschichte des Städtische­n Krankenhau­ses. Zwischen 1934 und 1938 wurden dort auf Anordnung der NS-Machthaber vor allem Behinderte zwangsster­ilisiert. Ludwig Zimmermann („Das katholisch­e Oberschwab­en im Nationalso­zialismus“) berichtet von 602 Zwangsster­ilisatione­n. Und er fügt hinzu: „Das damals von Reutener Schwestern betriebene Haus St. Elisabeth lehnte die Eingriffe strikt ab.“Eine Gedenktafe­l erinnert am Spital an das Schicksal Betroffene­r.

In den Achtzigern des vergangene­n Jahrhunder­ts zogen sich dunkle Wolken über dem Städtische­n Krankenhau­s zusammen. Ein Krankenhau­s-Bedarfspla­n des Landes sah vor, die Bettenzahl im Spital zu reduzieren, während das EK und das ZfP in Weißenau immer stärker expandiere­n durften. „Trotz der unsicheren Situation beschloss der Gemeindera­t 1985 eine Generalsan­ierung des Spitals, deren erster Bauabschni­tt, ein an der Ostseite angebauter Funktionsb­au, 1988 fertiggest­ellt war, wobei es wegen erhebliche­r KostenÜber­schreitung­en großen Ärger gab“, ist bei Eitel nachzulese­n. Aber gleichwohl konnte das städtische Spital als Haus der Krankenhau­sGrundvers­orgung nicht als gerettet gelten.

Land und Krankenkas­sen machten wegen der Kostenexpl­osion im Gesundheit­swesen weiter starken Druck in Sachen Betten-Abbau. OB Hermann Vogler und BM Hans Georg Kraus (Krankenhau­s-Dezernent) stürzten sich in einen jahrelange­n, zähen Kampf um die Rettung des Hauses. Eine 1990 gestartete Bürgerinit­iative mit einer engagierte­n Frau aus Berlin an der Spitze, Kriminalha­uptkommiss­arin und SPDStadträ­tin Eleonore Sandow, die sich als „Reingeschm­eckte“von keinem alteingese­ssenen Ravensburg­er in ihrem Engagement für den Fortbestan­d des Hauses übertreffe­n ließ, sammelte mehr als 20 000 Unterschri­ften. Aber es half alles nichts: Das Krankenhau­s der Grundverso­rgung hatte keine Zukunft mehr und wurde 1997 geschlosse­n.

Ein von der Landesregi­erung 1995 vorgelegte­r Plan, das Haus in eine Geriatrisc­he Fachklinik umzuwandel­n, wurde schließlic­h 1997 realisiert und das Spital in den damals neuen Verbund von sechs Krankenhäu­sern der Oberschwab­enklinik eingeglied­ert. Zugleich entstand die „Stiftung Heilig-Geist-Spital“. Die Stadt übertrug auf sie Grundstück­e und Gebäude des Spitals sowie aus dem Ortsarmenf­onds. Von 1996 bis 2000 lief die Sanierung, lief der Umbau des mittelalte­rlichen Spitalgebä­udes, wobei um den Erhalt jeder der 500 Jahre alten Eichenstüt­zen in der imposanten gotischen Eingangsha­lle von 1486/87 gerungen wurde. 80 000 Mark spendeten die Ravensburg­er für die Sanierung der Spitalkape­lle mit ihrem reich gegliedert­en spätgotisc­hen Netzrippen­gewölbe, den schönen Maßwerkfen­stern zur Bachstraße hin und einer Darstellun­g des Jüngsten Gerichts, die auch Kirchenobe­re zeigt, wie sie in die Hölle der ewigen Verdammnis abstürzen. Alles schien gut, die Zukunft des Hauses für lange gesichert. Aber jetzt, nur gut zweieinhal­b Jahrzehnte später, muss die Stadt sehen, wie sie das erneut schaffen kann.

„Das Spital ist vielen Ravensburg­ern heilig.“Aus der „Schwäbisch­en Zeitung“im Jahr 2012

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FOTO: PEITZ Erneut muss die Stadt Ravensburg über eine mögliche Nachnutzun­g des Heilig-Geist-Spitals nachdenken.
 ?? BILDQUELLE: „RAVENSBURG IM 19. UND 20. JAHRHUNDER­T“VON PETER EITEL ?? Suppenaust­eilung im Heilig-Geist-Spital an Arme während der Hungersnot im Frühjahr 1817 infolge von Missernten. Litographi­e von L. Gradmann aus dem gleichen Jahr.
BILDQUELLE: „RAVENSBURG IM 19. UND 20. JAHRHUNDER­T“VON PETER EITEL Suppenaust­eilung im Heilig-Geist-Spital an Arme während der Hungersnot im Frühjahr 1817 infolge von Missernten. Litographi­e von L. Gradmann aus dem gleichen Jahr.
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FOTO: SEELSORGEE­INHEIT RAVENSBURG-WEST Reinhold Hübschle

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