Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Im Nachtzug nach Kiew
Bundeskanzler Scholz sagt der Ukraine die volle Unterstützung Deutschlands zu – Konkrete neue Hilfe kündigt er jedoch nicht an
BERLIN - Morgens halb zehn in der Ukraine beginnt für Olaf Scholz ein Besuch, zu dem er schon lange gedrängt wird. Der Kanzler entsteigt am Bahnhof der Hauptstadt Kiew dem Nachtzug, der ihn zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi vom polnischen Grenzort Przemysl durch das von Russland angegriffene Land gefahren hat. Der Luftraum ist gesperrt, das Risiko eines Beschusses zu groß, aber das Bundeskriminalamt sieht auch die stundenlange Zugfahrt skeptisch. Fotos zeigen den Kanzler, wie er nachts in Begleitung mehrerer Sicherheitsbeamter an Gleisen entlangschreitet. Wie gefährlich die Reise ist, erweist sich auch, als kurz nach der Ankunft in Kiew Luftalarm ausgelöst wird.
Die Erwartungen an die Visite am 113. Kriegstag hätten kaum größer sein können. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte seinen Gast in einem ZDF-Interview gemahnt, dass die Bundesrepublik keinen „Spagat“zwischen Kiew und Moskau versuchen dürfe: „Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt – er und seine Regierung müssen sich entscheiden.“Auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag hoffte angesichts der jüngsten russischen Geländegewinne auf Ankündigungen zu weiterer Militärhilfe und zur europäischen Perspektive des Landes. „Der EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine wäre eine unmissverständliche Botschaft in Richtung Moskau – auch wenn der Prozess noch Jahre dauern wird“, sagte Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). „In der jetzigen Lage braucht das Land aber vor allem Waffen, da muss der Kanzler im wahrsten Sinne des Wortes liefern.“Panzer von Typ Marder und Leopard 1 stünden bereit.
Mitte Mai hatte Scholz selbst die Messlatte hochgelegt. „Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen“, sagte der Kanzler damals zu Kiews ersten Staatsgästen: „Wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge.“
In Bezug auf Panzerlieferungen der Industrie gibt es freilich weiter Bedenken, dass Modelle westlicher Bauart der russischen Seite in die Hände fallen oder als direkte Kriegsbeteiligung der Nato angesehen werden könnten. Scholz verweist deshalb auf die kurz bevorstehende Übergabe der Panzerhaubitze 2000, eines hochmodernen Geschützes, das von weit hinter der Frontlinie bis zu 40 Kilometer feuern kann. Sieben Stück aus Deutschland und fünf aus den Niederlanden sollen in den nächsten Tagen in der Ukraine eintreffen. Im Lauf des Sommers, nach der Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland, sollen drei Mehrfachraketenwerfer des Modells M270 der Bundeswehr geliefert werden. Diese Vereinbarung wurde am Mittwochabend mit den USA und Großbritannien getroffen.
Sichtlich bewegt spricht Scholz von der „Brutalität des russischen Angriffskrieges“, als er durch die Häuserruinen im Kiewer Vorort Irpin vorbeischreitet: „Es ist eine ganze Stadt zerstört worden, in der überhaupt gar keine militärischen Infrastrukturen waren.“Ein Ukrainer, der den Kanzler begleitet, zeigt nach Berichten einer Nachrichtenagentur vor Ort auf ein Autowrack, in dem offenbar eine Mutter und ihre Kinder bei einem russischen Angriff zu Kriegsbeginn getötet wurden. Scholz legt wortlos seine Hand auf den Kotflügel. Von „Zeichen der Barbarei“spricht Macron. „Die Ukraine muss widerstehen und gewinnen“, sagt Frankreichs Präsident, der kürzlich noch betont hatte, man dürfe Russlands Staatschef Wladimir Putin nicht „demütigen“.
Anschließend geht es in den Präsidentenpalast zu Selenskyj, der um ein siebtes EU-Sanktionspaket gegen Russland bittet, inklusive Gas-Embargo. Aber das oder unmittelbar wirksame Waffenlieferungen, um den Vormarsch der russischen Streitkräfte im Donbass aufzuhalten, haben die Gäste, zu denen auch Rumäniens Präsident Klaus Ioannis gehört, nicht im Gepäck. Macron sagt sechs weitere Raketenwerfer zu – für die nähere Zukunft.
Auf der Pressekonferenz bezeichnet Scholz den „heldenhaften Abwehrkampf“des Landes und die „Tapferkeit“seiner Menschen als „bewundernswert“. Er erinnert an die finanzielle, humanitäre und militärische Hilfe, die die Bundesrepublik schon leiste, und kündigt eher allgemein Militärhilfe über das schon zugesagte Material hinaus an: „Wir werden das weiterhin tun, solange die Ukraine unsere Unterstützung benötigt.“ Auch Macron wird eher grundsätzlich: Man werde helfen, bis es wieder „eine freie und unabhängige Ukraine“gebe.
Die Neuigkeit des Tages ist daher die Zusage, dass Scholz sich beim bevorstehenden Europäischen Rat für den eher symbolischen EU-Kandidatenstatus einsetzen will: „Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine.“Dies gelte auch für deren Nachbarland, die Republik Moldau. Der Kanzler betont freilich auch die Bedenken der Bundesregierung, indem er an die eigene Reformbedürftigkeit der Gemeinschaft und an „klare Kriterien“erinnert, die vor dem tatsächlichen Beitritt erfüllt sein müssen.
„Die Ukraine soll leben“, sagt er am Ende seines PressekonferenzStatements – und schließt auf Ukrainisch: „Slawa Ukrajini“.