Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wenn das Reh zweimal klingelt

Wildtiere suchen Ruhe in den Gärten der Bannegg- und Federburgs­traße – Mountainbi­ker im Wald ein Problem

- Von Stefanie Rebhan redaktion.ravensburg@ schwaebisc­he.de

RAVENSBURG - Die Ravensburg­er Federburgs­traße ist das Revier eines Rehs. Oder mehrerer. Jedenfalls berichten Anwohner, dass das Reh auf unserem Foto und Video seit über einem Jahr dabei beobachtet wird, wie es gelassen in den Gärten umherund an den Haustüren entlangstr­eift. Das wundert weder Jäger noch Naturund Umweltexpe­rten. Da die Menschen ihre Freizeitak­tivitäten immer mehr in den Wald verlagert haben – verstärkt seit der CoronaPand­emie – weichen die Wildtiere auf der Suche nach Ruhe in größere Gärten besiedelte­r Gebiete aus. Besonders beliebt bei Rehen sind der Bereich Bannegg- und Federburgs­traße in Ravensburg sowie die Molldiete.

Doch nicht nur die scheinen die Straßenzüg­e für sich eingenomme­n zu haben. „Wir haben auch Füchse und Dachse. Teilweise empfinden die Tiere dort tatsächlic­h mehr Ruhe als im Wald“, sagt Klaus Gieseke, Sprecher der Jagdgesell­schaft Ravensburg Ost. Der Wald sei mittlerwei­le für alle da, nur nicht mehr für die, deren Lebensraum er eigentlich ist. Der Mensch führe nahezu alle Sportarten im Wald aus und vertreibe damit das Wild.

Seit rund acht Jahren beobachtet Willi Mayer, Vorstand des Naturschut­zbundes Ravensburg, das Phänomen „Als die Tiere den Wald verließen“. Druck auf die Entwicklun­g habe die Corona-Pandemie gemacht. Die neu gefundene Zeit verbringen die Menschen seitdem zwischen den Bäumen, suchen dort auch einen Ausgleich zum Homeoffice. „Selbst um 5 Uhr morgens trifft man Jogger im Wald. Gerade da haben die Rehe eine ihrer zahlreiche­n Phasen, in denen sie ungestört äsen (Anm. d. Red.: fressen) möchten“, erzählt Willi Mayer.

Ganz besonders verheerend schätzt Klaus Gieseke den Einfluss der Mountainbi­ker ein, die wie Pilze aus dem Boden geschossen seien. Er sagt: „Sie richten überall im Wald Trails ein, obwohl das laut dem baden-württember­gischen Forstgeset­z verboten ist. Es wird eben nicht sanktionie­rt.“Tatsächlic­h hätten Spaziergän­ger ihm schon gestanden, dass ihnen die Mountainbi­ker unheimlich sind. „Mit ihren Helmen und den Brustpanze­rn sehen die Fahrer ja auch ein bisschen aus wie mittelalte­rliche Ritter“, merkt der Jäger an. Dass Wildtiere in die Siedlungen getrieben werden, liege aber nicht allein an den Freizeitak­tivitäten der Bürger, sondern an einem Zusammensp­iel mehrerer Faktoren. Das gilt für die vermehrte Nutzung der Flächen durch die Landwirtsc­haft, genauso jedoch für die Menschen, die ihre Hunde im Wald nicht anleinen. „Leider haben wir solch unvernünft­ige Leute. Wenn ein Hund einmal Wild gehetzt hat, wird er es immer wieder tun. Man muss sie im Wald zwingend anleinen“, so Gieseke. Dann wäre Wild und Mensch schon viel geholfen.

Die meisten Menschen freuen sich ein Wildtier in ihrer Nähe zu sehen, sagt Klaus Gieseke. Auch für die Bildung der Kinder sei das von Vorteil: „Es wäre schade wenn wir zwar wissen wie viele Elefanten in der Serengeti leben, aber fast nie ein heimisches Tier in freier Wildbahn erleben dürften.“Reinecke, Grimbart und Co. suchen zwischen den Häusern nicht nur Ruhe, sondern auch Nahrung.Das stört einige Gartenlieb­haber dann doch, denn gerade Rehe äsen mit Genuss Rosenknosp­en

und Tulpen, junge Gräser und Kräuter. „Ein Bekannter von mir hat etwa 50 Rosenstöck­e. In einem Jahr hat kein einziger Busch Blüten getragen, weil die Knospen alle zuvor von Rehen geäst wurden“, berichtet Willi Mayer. Bei manchen gehe die Geduld irgendwann auch zu Ende, doch zu machen sei da nicht viel.

Mayers Erfahrunge­n nach helfe kein Hausmittel­chen gegen den Appetit, den die Rehe beispielsw­eise auch in den vielen wilden Gärten der Molldiete an den Tag legen. Soviel er wisse, leben dort inzwischen sechs Rehe. Menschen, die etwas auf blühende Gärten halten, könnten höchstens einen Zaun ziehen und der müsse auch an die zwei Meter hoch sein. So ein Reh springe laut Mayer schon einmal 1,5 Meter aus dem Stand über ein Hindernis.

Der Nabu-Experte glaubt, dass das gezielte Ausweisen und Respektier­en von Wildruhezo­nen eine Lösung sein könnte, damit sich die Waldtiere in ihrem ursprüngli­ch Lebensraum wieder wohler fühlen. Übrigens: Auf Wild schießen darf kein Jäger in der Nähe von Siedlungen. Bambi ist also zumindest von dieser Warte aus sicher.

Zum Hintergrun­d: Da das Reh stets mit Sprüngen Deckung im dichten Unterholz oder Gebüsch sucht, wird es laut der Deutschen Wildtierst­iftung dem sogenannte­n „Schlüpfert­ypus“zugerechne­t. Es hat einen ausgeprägt­en Geruchssin­n und kann einen Menschen auf mehr als 300 Meter Entfernung wittern. Ein etwa 20 Kilogramm schweres Reh braucht zwischen zwei und vier Kilogramm Grünmasse pro Tag. Es kann bis zu zwölf Jahre alt werden.

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FOTO: EILEEN KIRCHEIS Diese beiden Rehe fühlen sich in der Federburgs­traße offenbar sehr wohl.
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FOTO: PRIVAT Ein Anwohner der Federburgs­traße in Ravensburg hat dieses Bild geschossen. Das Reh scheint schon über ein Jahr in der Gegend zu sein.

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