Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Deutlicher Fingerzeig beim DFB-Team
Die vier Spiele der Nations League haben klare Gewinner und Verlierer hervorgebracht
MÜNCHEN - Längst sind die Nationalspieler über alle Berge, sind längst über die Wolken entschwebt zu ihren Urlaubsdestinationen. Die strapazierten Füße genießen die FlipflopZeit. Endlich Luft, endlich Freizeit.
Doch noch am Dienstagabend herrschte rund um den Mönchengladbacher Borussia-Park ein Gefühl wie am letzten Schultag vor den Sommerferien. Mit dem Unterschied, dass die deutsche Nationalelf noch eine letzte Prüfung zu bestehen hatte, einen „Stresstest“, wie es Bundestrainer Hansi Flick formulierte. Seine Schüler bestanden diesen mit Bravour, siegten schwungvoll und überzeugend mit 5:2 gegen Europameister und Nicht-WM-Teilnehmer Italien und holte sich den ersten Erfolg in der diesjährigen NationsLeague-Ausgabe.
Nach drei mageren 1:1-Resultaten in Italien, gegen England und in Ungarn machte Flick, seit mittlerweile schon 13 Partien ungeschlagen (vier Remis), „der Mannschaft ein Riesenkompliment“und ergänzte: „Es verlangt Respekt, im vierten Spiel so eine Leistung abzurufen. Die Mannschaft hat alles umgesetzt, was wir uns vorgenommen haben.“Wenn das so weitergeht, egalisiert Flick die Marke von Sepp Herberger, der 14 Spiele ab Amtsantritt 1936 ungeschlagen blieb. Bleibt der 57-Jährige wie einst Jupp Derwall ab Oktober 1978 ganze 23 Partien ohne Niederlage, dann hält Flick kurz vor Weihnachten in Doha wahrscheinlich die WM-Trophäe in Händen.
Wer konnte nun die vier JuniSpiele nutzen, um Eigenwerbung zu betreiben? Wer hat sich sein vielleicht noch unsicheres WM-Ticket sichern können? Wer dagegen hat Minuspunkte gesammelt, wer muss nun zittern? Hier sind Flicks Gewinner und Verlierer:
DIE GEWINNER
Manuel Neuer: Obwohl er in keiner der vier Partien zu null spielen konnte und insgesamt fünf Gegentreffer kassierte, konnte der 36-Jährige seine Ausnahmestellung als unantastbare Nummer 1 zementieren. Flick schwärmte: „Manu ist ein absoluter Weltklasse-Torhüter. Das gilt für die Torverteidigung, aber auch mit dem Ball. Er hat die Ruhe, Gelassenheit und die Qualität, die Pässe so zu spielen, dass der, der sie bekommt, damit etwas anfangen kann.“
Die zentrale Achse: Vor Torhüter Neuer hat Flick mit Abwehrchef
Antonio Rüdiger, dem Sechser und Mittelfeldchef Joshua Kimmich plus Offensivfreigeist Thomas Müller, dessen Rolle Flick auf der Position hinter einer Spitze sieht, eine zentrale Achse gebaut. Rüdiger, ab 1. Juli bei Real Madrid, räumt auf, gibt die Kommandos. Kimmich ordnet den Spielaufbau und stößt nach vorne vor (zwei Treffer in den vier Spielen). Der unverwüstliche und unermüdliche Müller ist der vorderste Pressing-Koordinator, bereitet fleißig Tore vor und trifft wie gegen Italien.
Jonas Hofmann: Nach einer unterdurchschnittlichen Saison mit Borussia Mönchengladbach spielte sich der Rechtsaußen mit frischen und mutigen Auftritten in die erste Elf, traf gegen England und in Ungarn. Hofmann zeigt keine Allüren, stellt keine Ansprüche und erfüllt seine Aufgabe. Hat den WM-Platz samt Chance auf viele Einsätze sicher.
Jamal Musiala: Der 19-Jährige bekam von Flick zweimal von Beginn an das Vertrauen und war gegen England sowie in Ungarn neben Hofmann der beste Offensivakteur. Sein schlaues Passspiel und seine schlangenartigen Bewegungen machen den ballsicheren Teenager im Grunde unverzichtbar.
Klostermann & Raum: Der Leipziger Lukas Klostermann interpretiert seine Rechtsverteidiger-Rolle defensiver als Linksverteidiger David Raum von der TSG Hoffenheim. Beide jedoch konnten auf ihre Art und mit ihrer zuverlässigen und soliden (Klostermann) sowie mutigen und aggressiven (Raum) Spielweise punkten.
DIE VERLIERER
Marc-André ter Stegen: Neuers einstiger Herausforderer, Deutschlands Nummer 2 vom FC Barcelona wurde für die vier Nations-LeaguePartien erst gar nicht nominiert. Aus Gründen der Schonung, hieß es. In Katar wird ihm auch nur die Rolle als Zuschauer und Trainingspartner von Neuer bleiben. Ob ter Stegen mit diesen Aussichten mitfährt?
Leroy Sané: Der Flügelstürmer der Bayern bekam nach einem ganz schlappen Auftritt ohne jede Körperspannung gegen England einen dicken Rüffel von DFB-Direktor Oliver Bierhoff („Am Ende musst du dich da als Spieler auch rauskämpfen“) und bemühte sich, gegen Italien Engagement und Leistungswillen auch per Körpersprache auszustrahlen. Dennoch: Sein Stammplatz wackelt.
Timo Werner: Obwohl der viel kritisierte Chelsea-Stürmer nach drei Torlos-Auftritten zunächst auch gegen Italien höchst glücklos agierte und ihm nichts mehr gelingen wollte, konnte er noch zwei Treffer erzielen. Der Schwabe ist ein Stimmungsspieler, dem Flick bedingungslos die Treue hält. „Es ist wichtig, dass die Spieler Vertrauen spüren“, betonte der Bundestrainer. Dennoch: Ein echter Knipser mit Torjäger-Gen ist und bleibt Werner nicht.
Karim Adeyemi: Der künftige Dortmunder erhielt von Flick eine deutliche Ansage. „Karim muss noch eine Entwicklung machen“, sagte der Bundestrainer über den 20-jährigen Flügelstürmer und erklärte: „Im Moment ist Lukas Nmecha einen Tick weiter vorne. Karim muss den nächsten Schritt machen beim BVB.“Um sich sein WM-Ticket zu verdienen. Der körperlich robustere Mittelstürmer Nmecha vom VfL Wolfsburg hat bessere Karten.
Henrichs & Kehrer: Der Leipziger Benjamin Henrichs durfte nur zu Beginn in Bologna eine knappe Stunde gegen Italien ran, fiel als Linksverteidiger durch. Abwehr-Allrounder Thilo Kehrer (Paris St. Germain), der in den ersten neun Länderspielen der Flick-Ära vor der Nations League immer in der Startelf stand, kam in den Heimspielen gegen England und Italien nicht zum Einsatz. Sein Unantastbar-Status als flexibler Außenverteidiger wackelt.