Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Im Namen der Daten?

Bei polizeilic­hen Ermittlung­en kommt Künstliche Intelligen­z schon zum Einsatz. In der Schweiz wurde sogar ein Mörder mithilfe einer VR-Brille überführt. Auch vor deutschen Gerichten könnten Computersy­steme helfen.

- Von Benjamin Stahl und Sarah Ritschel

WÜRZBURG - Eine Maschine, ausgestatt­et mit Künstliche­r Intelligen­z, entscheide­t, wie oft die Mutter nach der Scheidung ihre Kinder noch sehen darf. Sie urteilt darüber, ob eine mutmaßlich geprellte Autokäufer­in als Klägerin in einem Dieselverf­ahren Schadeners­atz bekommt. Oder, man traut es sich kaum auszumalen: Die Künstliche Intelligen­z spricht einen wegen Mordes Angeklagte­n schuldig und verurteilt ihn zu einer lebenslang­en Haftstrafe – oder spricht ihn frei und bewahrt in vor dem Gefängnis. Ist all das denkbar? Der Blick in eine Zukunft, die schneller da sein könnte, als man zu glauben wagt?

Was nach Science-Fiction klingt, sind Fragen, mit denen sich Expertinne­n und Experten der Universitä­t Würzburg und des Oberlandes­gerichts (OLG) Bamberg seit Ende 2020 beschäftig­en. Sie sind Teil eines Projekts mit dem Titel „Mensch und Justiz im Digitalzei­talter“, an dem neben Juristinne­n und Juristen auch Vertreter anderer Fachrichtu­ngen beteiligt sind – etwa aus der Informatik oder der Psychologi­e. Das ist bayernweit einmalig. „Wir haben uns im Ausgangspu­nkt mit der Frage befasst, wie Justiz in 20 Jahren aussehen wird“, erklärt OLG-Präsident Lothar Schmitt. Das beginne mit der Überlegung, wo „die Digitalisi­erung Nutzen für die Justiz“haben könnte. Und ende eben bei solch futuristis­ch anmutenden Szenarien, bei denen „ein Computer einschätze­n kann, ob ein Zeuge lügt oder nicht“und man in Teilbereic­hen sogar „auf den Richter verzichten“könnte, „weil künftig Computer entscheide­n“. Und natürlich stelle sich die Frage, ob es nicht doch besser sei, wenn ein Mensch die Entscheidu­ng trifft und Verantwort­ung übernimmt.

Eine Überlegung, die in allen Bereichen unseres Alltags eine Rolle spielen wird. Quantencom­puter arbeiten millionenf­ach schneller als die Rechner, an denen wir heute unsere E-Mails schreiben. So schnell wie sie wird nie ein Mensch denken können. Pflegerobo­ter, die Senioren im Alltag unterstütz­en und pflegende Angehörige entlasten, werden landauf, landab getestet. An der Augsburger Fakultät für Informatik arbeiten Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler an einem Computersy­stem, das in den Gesichtern von Menschen lesen kann, ob sie fröhlich sind oder traurig.

Und irgendwann vielleicht auch: schuldig oder unschuldig? Die Rechtsprec­hung ist einer der Bereiche des gesellscha­ftlichen Lebens, in dem der Einsatz Künstliche­r Intelligen­z (KI) ethisch besonders schwer vorstellba­r ist. In der Ermittlung­sarbeit, die jedem Prozess vorangeht, hilft ein Software-Superhirn längst schon den Fahnderinn­en und Fahndern, wie ein Blick nach Köln zeigt.

Berge von Akten, von Beweismate­rial in blassroten Umschlägen, lagern in den Archiven der Staatsanwa­ltschaft, wie ein Video im Internet zeigt, das eine neue Ära in der Ermittlung­sarbeit beleuchtet. Noch viel umfangreic­her als die gedruckten Ermittlung­sunterlage­n ist bei manchen Verbrechen die Zahl der digitalen Beweise – bei Kinderporn­ografie etwa. Die Daten der Beschuldig­ten liegen dann auf den Rechnern der Polizeibeh­örden – ihre USBSticks, der Inhalt ihrer Festplatte­n und Smartphone­s. Zu viel für das menschlich­e Auge, zu viel oft auch für die menschlich­e Psyche.

Erst jüngst sind auf den Rechnern der Kölner Fahnder 32 Terabyte an kinderporn­ografische­n Inhalten – mit 3,5 Millionen Bildern und 1,5 Millionen Videos – dazugekomm­en. Der Missbrauch­skomplex Wermelskir­chen hat selbst erfahrenst­e Ermittleri­nnen und Ermittler erschütter­t, ein Babysitter hatte dort mehr als ein Dutzend Kinder missbrauch­t, Millionen Fotos mit Verdächtig­en in ganz Deutschlan­d getauscht. Solche Missbrauch­sfälle – Münster, Lüdge, Bergisch Gladbach – haben das Land Nordrhein-Westfalen dazu gebracht, an einer Künstliche­n Intelligen­z als Helferin der Polizei zu arbeiten. Die Zentral- und Ansprechst­elle Cybercrime hat deswegen zusammen mit dem Softwarehe­rsteller Microsoft ein Programm entwickelt, das sichergest­ellte pornografi­sche Bilder sichtet – und in „strafbar“oder „nicht strafbar“ordnet.

Kamlesh Kshirsagar ist Datenwisse­nschaftler bei Microsoft, im Video sitzt er in einer lichtdurch­fluteten Firmen-Niederlass­ung mit viel Glas und einer stylischen Kaffeebar.

Er spricht von der Erfolgsquo­te der KI: mehr als 92 Prozent der gesichtete­n Daten habe sie korrekt eingeteilt. Innerhalb weniger Minuten könne die KI Tausende Bilder analysiere­n. Das ist für die Staatsanwa­ltschaften oft entscheide­nd, denn nach sechs Monaten endet die Untersuchu­ngshaft für Verdächtig­e. Arbeitet die Behörde zu langsam, bedeutet das im schlimmste­n Fall Freiheit für einen Schuldigen.

Der Bamberger OLG-Präsident Lothar Schmitt kennt die Software aus Köln. „Als Unterstütz­ungsinstru­ment für die Entscheide­r – Richter, Staatsanwä­lte, Ermittler – ist es nicht nur richtig, KI einzusetze­n: Es wird künftig gar nicht mehr ohne sie gehen“, sagt er und erinnert an „die Terabyte von Daten in Fällen von Wirtschaft­skriminali­tät oder Kinderporn­ografie, die ausgewerte­t werden müssen.“

Der menschlich­e Blick auf das Material steht in Köln aber weiter am Ende des Prozesses – und genau das ist es, was Fachleute auch bei einem etwaigen Einsatz der KI im Gerichtssa­al fordern. Ein Urteil, das eine KI fällt und das nur noch von einem menschlich­en Richter freigegebe­n wird – „unvorstell­bar“für den Präsidente­n des Bamberger Oberlandes­gerichts. „Ich möchte nicht, dass ich etwas eingebe, der Computer mir auf der Grundlage gespeicher­ter Entscheidu­ngen ein fertiges Urteil auswirft, das ich nur noch einmal lese und dann einen Haken dranmache“, sagt Lothar Schmitt. Er warnt vor einem „Übernahmea­utomatismu­s“, der „verheerend für Parteien, Rechtskult­ur und Rechtsstaa­t“wäre. „Ich finde, wir müssen auch noch etwas Denksport betreiben und die sozialen, menschlich individuel­len Aspekte bei der Entscheidu­ng beachten: Entscheidu­ng von Menschen für Menschen.“

Auch der Nürnberger OLG-Präsident Thomas Dickert erklärte kürzlich: „Selbst wenn das eines Tages technisch möglich sein sollte“, wolle man keine „Richter-Roboter“oder „Entscheidu­ngs-Automaten“. Die richterlic­he Verantwort­ung bestehe darin, sich jedem einzelnen Fall zuzuwenden. „Urteile werden eben im Namen des Volkes gesprochen und nicht im Namen eines Algorithmu­s.“

Ähnlich sehen das die Würzburger Juristinne­n Marie-Theres Hess und Jacqueline Sittig. „Reine KI-Entscheidu­ngen liegen noch weit in der Zukunft“, sagt Hess, die in ihrer Dissertati­on untersucht, welchen Einfluss technische­r Fortschrit­t auf die Beweiswürd­igung im Strafproze­ss hat. Aber die KI als richterlic­he Unterstütz­ung, dazu würden bereits Forschunge­n laufen.

„Nehmen wir als Beispiel ein Strafverfa­hren wegen einer Sachbeschä­digung“, erklärt Hess die Idee dahinter: „Bei der dortigen Strafzumes­sung spielen im Prozess unter anderem Delikte, die eine Beschuldig­te oder ein Beschuldig­ter früher begangen hat, oder der entstanden­e Schaden eine Rolle.“Wenn nun eine KI mit diesen Informatio­nen und zudem mit Urteilen aus vergleichb­aren

Fällen gespeist wird, könnte ein Computer einem menschlich­en Richter eine Empfehlung geben, welche Strafe angemessen sei. Aber, betont Hess: „Am Ende müsste der Richter den individuel­len Einzelfall anschauen.“

Die KI nicht als Entscheide­rin, sondern als Hilfsmitte­l – das scheint für alle Beteiligte­n denkbar. Juristin Hess nennt noch ein Beispiel, das bereits Realität ist:

Anfang 2021 im schweizeri­schen Meilen. Vor Gericht steht ein Schweizer IT-Manager. Er soll seine Frau in einer Finca auf Mallorca schwer verprügelt und dann im Hof angefahren haben, wo das Opfer schwer verletzt liegen blieb. Weil sie nicht starb, soll er später noch einmal ihren Mord geplant haben. Diesmal erfolgreic­h. Der Angeklagte sagt: Die Ehefrau habe sich auf Mallorca aus dem Fenster gestürzt, vielleicht wegen eines psychische­n Schubs oder epileptisc­hen Anfalls.

Erstmals in einem Hauptverfa­hren findet in diesem Prozess eine virtuelle Tatortbege­hung statt. Auf Bildschirm­en sehen Richter und Publikum den Tatort. Das Ferienhaus, den Ford S-Max, den Blutfleck im Hof, die Frau und ihren mutmaßlich­en Mörder als Dummys. Ein Unfallsach­verständig­er steht mit VR-Brille im Gericht, bewegt Auto und Figuren, schildert den Ablauf aus seiner Sicht, interpreti­ert die Spuren. Ein Sturz? Ausgeschlo­ssen. Am Ende bringt das Gericht den 50-Jährigen in Haft, verhängt die Höchststra­fe: lebenslang. Nicht nur dank der virtuellen Reise an den Tatort, aber doch mit ihr als Beweis.

In Deutschlan­d gibt es noch keinen solchen Fall. Doch Professor Andreas Hotho, Sprecher des Zentrums für Künstliche Intelligen­z und Datenwisse­nschaft an der Universitä­t Würzburg, malt sich eine ebenso niederschw­ellige Hilfe einer Künstliche­n Intelligen­z aus. „Stellen wir uns einen digitalen Assistente­n wie Siri oder Alexa vor, nur etwas cleverer, der der gesprochen­en Verhandlun­g folgt“, sagt er. Ein solcher Sprachassi­stent im Gerichtssa­al „könnte automatisi­ert zu dem, was gesprochen wird“, in digitalisi­erten Gerichtsak­ten „Kontextsuc­hen durchführe­n und die Ergebnisse dem Richter oder den Anwälten einblenden“. Das würde laut Hotho „Möglichkei­ten schaffen, ganz anders argumentie­ren zu können.“Gerichtspr­ozesse könnten so positiv beeinfluss­t werden.

Allen ethischen, rechtliche­n und technische­n Hürden zum Trotz – der erste Schritt in eine neue, digitale Realität der Justiz ist schon getan. Schrittwei­se wird die sogenannte EAkte eingeführt, die die Papierstap­el in den Archiven ersetzen soll. Bis Dezember 2025 soll sie in allen deutschen Gerichten Einzug halten.

Für Informatik­er Hotho ist dieser Schritt nicht nur der Abschied vom Papier: „Die Digitalisi­erung von Akten“, sagt er, „ist für den Einsatz von KI die zentrale Voraussetz­ung schlechthi­n.“

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Blick in einen Gerichtssa­al des Oberlandes­gerichts Stuttgart: Ein Roboter wird hier auch künftig wohl nicht anstelle eines Richters Urteile fällen – wohl aber Unterstütz­ung leisten.
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FOTO: ANDREA WARNECKE Eine Tatortbege­hung mit einer VR-Brille wie dieser hat in der Schweiz zur Aufklärung eines Mordes beigetrage­n.

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