Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Im Namen der Daten?
Bei polizeilichen Ermittlungen kommt Künstliche Intelligenz schon zum Einsatz. In der Schweiz wurde sogar ein Mörder mithilfe einer VR-Brille überführt. Auch vor deutschen Gerichten könnten Computersysteme helfen.
WÜRZBURG - Eine Maschine, ausgestattet mit Künstlicher Intelligenz, entscheidet, wie oft die Mutter nach der Scheidung ihre Kinder noch sehen darf. Sie urteilt darüber, ob eine mutmaßlich geprellte Autokäuferin als Klägerin in einem Dieselverfahren Schadenersatz bekommt. Oder, man traut es sich kaum auszumalen: Die Künstliche Intelligenz spricht einen wegen Mordes Angeklagten schuldig und verurteilt ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe – oder spricht ihn frei und bewahrt in vor dem Gefängnis. Ist all das denkbar? Der Blick in eine Zukunft, die schneller da sein könnte, als man zu glauben wagt?
Was nach Science-Fiction klingt, sind Fragen, mit denen sich Expertinnen und Experten der Universität Würzburg und des Oberlandesgerichts (OLG) Bamberg seit Ende 2020 beschäftigen. Sie sind Teil eines Projekts mit dem Titel „Mensch und Justiz im Digitalzeitalter“, an dem neben Juristinnen und Juristen auch Vertreter anderer Fachrichtungen beteiligt sind – etwa aus der Informatik oder der Psychologie. Das ist bayernweit einmalig. „Wir haben uns im Ausgangspunkt mit der Frage befasst, wie Justiz in 20 Jahren aussehen wird“, erklärt OLG-Präsident Lothar Schmitt. Das beginne mit der Überlegung, wo „die Digitalisierung Nutzen für die Justiz“haben könnte. Und ende eben bei solch futuristisch anmutenden Szenarien, bei denen „ein Computer einschätzen kann, ob ein Zeuge lügt oder nicht“und man in Teilbereichen sogar „auf den Richter verzichten“könnte, „weil künftig Computer entscheiden“. Und natürlich stelle sich die Frage, ob es nicht doch besser sei, wenn ein Mensch die Entscheidung trifft und Verantwortung übernimmt.
Eine Überlegung, die in allen Bereichen unseres Alltags eine Rolle spielen wird. Quantencomputer arbeiten millionenfach schneller als die Rechner, an denen wir heute unsere E-Mails schreiben. So schnell wie sie wird nie ein Mensch denken können. Pflegeroboter, die Senioren im Alltag unterstützen und pflegende Angehörige entlasten, werden landauf, landab getestet. An der Augsburger Fakultät für Informatik arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an einem Computersystem, das in den Gesichtern von Menschen lesen kann, ob sie fröhlich sind oder traurig.
Und irgendwann vielleicht auch: schuldig oder unschuldig? Die Rechtsprechung ist einer der Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, in dem der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) ethisch besonders schwer vorstellbar ist. In der Ermittlungsarbeit, die jedem Prozess vorangeht, hilft ein Software-Superhirn längst schon den Fahnderinnen und Fahndern, wie ein Blick nach Köln zeigt.
Berge von Akten, von Beweismaterial in blassroten Umschlägen, lagern in den Archiven der Staatsanwaltschaft, wie ein Video im Internet zeigt, das eine neue Ära in der Ermittlungsarbeit beleuchtet. Noch viel umfangreicher als die gedruckten Ermittlungsunterlagen ist bei manchen Verbrechen die Zahl der digitalen Beweise – bei Kinderpornografie etwa. Die Daten der Beschuldigten liegen dann auf den Rechnern der Polizeibehörden – ihre USBSticks, der Inhalt ihrer Festplatten und Smartphones. Zu viel für das menschliche Auge, zu viel oft auch für die menschliche Psyche.
Erst jüngst sind auf den Rechnern der Kölner Fahnder 32 Terabyte an kinderpornografischen Inhalten – mit 3,5 Millionen Bildern und 1,5 Millionen Videos – dazugekommen. Der Missbrauchskomplex Wermelskirchen hat selbst erfahrenste Ermittlerinnen und Ermittler erschüttert, ein Babysitter hatte dort mehr als ein Dutzend Kinder missbraucht, Millionen Fotos mit Verdächtigen in ganz Deutschland getauscht. Solche Missbrauchsfälle – Münster, Lüdge, Bergisch Gladbach – haben das Land Nordrhein-Westfalen dazu gebracht, an einer Künstlichen Intelligenz als Helferin der Polizei zu arbeiten. Die Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime hat deswegen zusammen mit dem Softwarehersteller Microsoft ein Programm entwickelt, das sichergestellte pornografische Bilder sichtet – und in „strafbar“oder „nicht strafbar“ordnet.
Kamlesh Kshirsagar ist Datenwissenschaftler bei Microsoft, im Video sitzt er in einer lichtdurchfluteten Firmen-Niederlassung mit viel Glas und einer stylischen Kaffeebar.
Er spricht von der Erfolgsquote der KI: mehr als 92 Prozent der gesichteten Daten habe sie korrekt eingeteilt. Innerhalb weniger Minuten könne die KI Tausende Bilder analysieren. Das ist für die Staatsanwaltschaften oft entscheidend, denn nach sechs Monaten endet die Untersuchungshaft für Verdächtige. Arbeitet die Behörde zu langsam, bedeutet das im schlimmsten Fall Freiheit für einen Schuldigen.
Der Bamberger OLG-Präsident Lothar Schmitt kennt die Software aus Köln. „Als Unterstützungsinstrument für die Entscheider – Richter, Staatsanwälte, Ermittler – ist es nicht nur richtig, KI einzusetzen: Es wird künftig gar nicht mehr ohne sie gehen“, sagt er und erinnert an „die Terabyte von Daten in Fällen von Wirtschaftskriminalität oder Kinderpornografie, die ausgewertet werden müssen.“
Der menschliche Blick auf das Material steht in Köln aber weiter am Ende des Prozesses – und genau das ist es, was Fachleute auch bei einem etwaigen Einsatz der KI im Gerichtssaal fordern. Ein Urteil, das eine KI fällt und das nur noch von einem menschlichen Richter freigegeben wird – „unvorstellbar“für den Präsidenten des Bamberger Oberlandesgerichts. „Ich möchte nicht, dass ich etwas eingebe, der Computer mir auf der Grundlage gespeicherter Entscheidungen ein fertiges Urteil auswirft, das ich nur noch einmal lese und dann einen Haken dranmache“, sagt Lothar Schmitt. Er warnt vor einem „Übernahmeautomatismus“, der „verheerend für Parteien, Rechtskultur und Rechtsstaat“wäre. „Ich finde, wir müssen auch noch etwas Denksport betreiben und die sozialen, menschlich individuellen Aspekte bei der Entscheidung beachten: Entscheidung von Menschen für Menschen.“
Auch der Nürnberger OLG-Präsident Thomas Dickert erklärte kürzlich: „Selbst wenn das eines Tages technisch möglich sein sollte“, wolle man keine „Richter-Roboter“oder „Entscheidungs-Automaten“. Die richterliche Verantwortung bestehe darin, sich jedem einzelnen Fall zuzuwenden. „Urteile werden eben im Namen des Volkes gesprochen und nicht im Namen eines Algorithmus.“
Ähnlich sehen das die Würzburger Juristinnen Marie-Theres Hess und Jacqueline Sittig. „Reine KI-Entscheidungen liegen noch weit in der Zukunft“, sagt Hess, die in ihrer Dissertation untersucht, welchen Einfluss technischer Fortschritt auf die Beweiswürdigung im Strafprozess hat. Aber die KI als richterliche Unterstützung, dazu würden bereits Forschungen laufen.
„Nehmen wir als Beispiel ein Strafverfahren wegen einer Sachbeschädigung“, erklärt Hess die Idee dahinter: „Bei der dortigen Strafzumessung spielen im Prozess unter anderem Delikte, die eine Beschuldigte oder ein Beschuldigter früher begangen hat, oder der entstandene Schaden eine Rolle.“Wenn nun eine KI mit diesen Informationen und zudem mit Urteilen aus vergleichbaren
Fällen gespeist wird, könnte ein Computer einem menschlichen Richter eine Empfehlung geben, welche Strafe angemessen sei. Aber, betont Hess: „Am Ende müsste der Richter den individuellen Einzelfall anschauen.“
Die KI nicht als Entscheiderin, sondern als Hilfsmittel – das scheint für alle Beteiligten denkbar. Juristin Hess nennt noch ein Beispiel, das bereits Realität ist:
Anfang 2021 im schweizerischen Meilen. Vor Gericht steht ein Schweizer IT-Manager. Er soll seine Frau in einer Finca auf Mallorca schwer verprügelt und dann im Hof angefahren haben, wo das Opfer schwer verletzt liegen blieb. Weil sie nicht starb, soll er später noch einmal ihren Mord geplant haben. Diesmal erfolgreich. Der Angeklagte sagt: Die Ehefrau habe sich auf Mallorca aus dem Fenster gestürzt, vielleicht wegen eines psychischen Schubs oder epileptischen Anfalls.
Erstmals in einem Hauptverfahren findet in diesem Prozess eine virtuelle Tatortbegehung statt. Auf Bildschirmen sehen Richter und Publikum den Tatort. Das Ferienhaus, den Ford S-Max, den Blutfleck im Hof, die Frau und ihren mutmaßlichen Mörder als Dummys. Ein Unfallsachverständiger steht mit VR-Brille im Gericht, bewegt Auto und Figuren, schildert den Ablauf aus seiner Sicht, interpretiert die Spuren. Ein Sturz? Ausgeschlossen. Am Ende bringt das Gericht den 50-Jährigen in Haft, verhängt die Höchststrafe: lebenslang. Nicht nur dank der virtuellen Reise an den Tatort, aber doch mit ihr als Beweis.
In Deutschland gibt es noch keinen solchen Fall. Doch Professor Andreas Hotho, Sprecher des Zentrums für Künstliche Intelligenz und Datenwissenschaft an der Universität Würzburg, malt sich eine ebenso niederschwellige Hilfe einer Künstlichen Intelligenz aus. „Stellen wir uns einen digitalen Assistenten wie Siri oder Alexa vor, nur etwas cleverer, der der gesprochenen Verhandlung folgt“, sagt er. Ein solcher Sprachassistent im Gerichtssaal „könnte automatisiert zu dem, was gesprochen wird“, in digitalisierten Gerichtsakten „Kontextsuchen durchführen und die Ergebnisse dem Richter oder den Anwälten einblenden“. Das würde laut Hotho „Möglichkeiten schaffen, ganz anders argumentieren zu können.“Gerichtsprozesse könnten so positiv beeinflusst werden.
Allen ethischen, rechtlichen und technischen Hürden zum Trotz – der erste Schritt in eine neue, digitale Realität der Justiz ist schon getan. Schrittweise wird die sogenannte EAkte eingeführt, die die Papierstapel in den Archiven ersetzen soll. Bis Dezember 2025 soll sie in allen deutschen Gerichten Einzug halten.
Für Informatiker Hotho ist dieser Schritt nicht nur der Abschied vom Papier: „Die Digitalisierung von Akten“, sagt er, „ist für den Einsatz von KI die zentrale Voraussetzung schlechthin.“