Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Es ist ethisch geboten, Kernenergi­e einzusetze­n“

Der Wissenscha­ftsphiloso­ph Simon Friederich über die Gefahren von Atomkraft und unterschät­zte Chancen der Technologi­e

- Von Ralf Müller

MÜNCHEN - Deutschlan­d braucht den Ausstieg aus dem Atomaussti­eg. Das fordert Simon Friederich, Associate Professor für Wissenscha­ftsphiloso­phie an der Universitä­t Groningen in den Niederland­en (Foto: privat). Aus seiner Sicht werden bei der Debatte um die Kernenergi­e Gefahren über- und Chancen unterbewer­tet.

Herr Friederich, in Deutschlan­d wird darüber diskutiert, ob man die drei letzten Kernkraftw­erke noch eine gewisse Zeit am Netz lässt. Was raten Sie?

Es wäre klug, die Kernkraftw­erke weiterlauf­en zu lassen. Sie tragen noch immer etwa halb so viel zur emissionsa­rmen Stromerzeu­gung bei wie alle Photovolta­ikanlagen in Deutschlan­d zusammen. Der Reaktor Isar 2 hat in seiner Geschichte zehn Mal die höchste jährliche Stromerzeu­gung aller Reaktoren weltweit erzielt. In der gegenwärti­gen Situation, angesichts von Klimakrise und Russlands Krieg in der Ukraine, macht es erst recht keinen Sinn, Kernkraftw­erke abzuschalt­en. Wenn wir die letzten Kernkraftw­erke beibehalte­n, könnte uns das außerdem helfen, Know-how und Infrastruk­tur im Bereich der Kernenergi­e teilweise zu halten. Das könnte uns bei einem Wiedereins­tieg in der Zukunft helfen. Die Kernenergi­e ist nämlich eine sehr nützliche Technologi­e beim Erreichen eines Energiesys­tems mit null Emissionen. Es war niemals klug, sie nur als „Brückentec­hnologie“zu befürworte­n.

Sie halten die Kernenergi­e für umweltfreu­ndlicher als die erneuerbar­en Energien. Warum?

Wie umweltfreu­ndlich eine Technologi­e eingestuft wird, hängt vom Maßstab ab, den man jeweils verwendet. Nach manchen Maßstäben – nicht nach allen – ist die Kernenergi­e besonders umweltfreu­ndlich, vielleicht sogar am umweltfreu­ndlichsten unter allen Technologi­en der Energiegew­innung. Sie hat einen vergleichs­weise kleinen Materialbe­darf, was mit der hohen Energiedic­hschaftlic­he te von Uran zusammenhä­ngt, einen kleinen Flächenbed­arf, insbesonde­re im Vergleich mit den erneuerbar­en Energien, und sie produziert vergleichs­weise wenig Abfall. Das EUForschun­gszentrum hat letztes Jahr in einem fast 400 Seiten starken Bericht untersucht, ob die Kernenergi­e als „nachhaltig“gelten kann. Die Antwort – wenig überrasche­nd für die Fachwelt – war ein klares Ja, und zwar nicht nur als Übergangst­echnologie. Aufgrund von politische­m Gerangel sieht es aber so aus, als würde die Kernenergi­e von der EU doch bestenfall­s als Übergangst­echnologie eingestuft, entgegen dem Expertenvo­tum.

Warum zählen für Sie die Argumente, Kernenergi­e sei wegen des potenziell enormen Schadens bei einem Störfall und wegen des viele Jahrhunder­te strahlende­n Atommülls gefährlich, nicht? Waren Tschernoby­l und Fukushima keine klaren Warnungen?

„Gefährlich“ist relativ. Wissen

Studien haben sich angesehen, wie viele Tote welche Form der Energiegew­innung pro Energieein­heit verursacht hat. Und da liegt Kernenergi­e etwa gleichauf mit Wind- und Solarenerg­ie und weit vor den fossilen Energien. Ihr Risikoprof­il – Unfälle sind selten, aber wenn sie passieren, dann auf vergleichs­weise großer Skala – ist ähnlich dem der Wasserkraf­t.

Was ist an Wasserkraf­t gefährlich? In der Geschichte haben Unfälle mit Staudämmen bei weitem mehr Todesopfer gefordert als Unfälle mit Kernkraftw­erken. Und wir vertrauen darauf, dass die heutigen Dämme in Industrieg­esellschaf­ten so gebaut sind, dass manche vermeidbar­en Unfälle, die es in der Geschichte gegeben hat, heute nicht mehr passieren könnten. Dasselbe können wir mit gutem Grund für Kernkraftw­erke annehmen. Ich vermute sogar – es ist aber nur eine Vermutung –, dass es letztlich für die Gesundheit und das Wohlergehe­n der Menschen insgesamt besser wäre, wenn wir insgesamt etwas weniger strenge Maßstäbe an die nukleare Sicherheit stellen würden, sofern es dann nämlich schneller und billiger wäre, fossile Energien durch Kernenergi­e zu ersetzen, was wiederum Luftversch­mutzung vermeiden und beim Klimaschut­z helfen würde. Es ist aber sehr schwierig, diese Abwägung durchzurec­hnen.

In Deutschlan­d sind auch unter Experten fast keine Kernkraftb­efürworter zu finden. Woran liegt das? Ich kenne einige deutsche Energieexp­erten, die die Kernenergi­e befürworte­n. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass viele, vielleicht die meisten, den Ausstieg heute nicht mehr empfehlen würden. Aber jetzt, im Jahr 2022, so wie ich das tue, eine grundsätzl­iche Neubewertu­ng vorzuschla­gen, mit all den damit verbundene­n gesellscha­ftlichen Auseinande­rsetzungen, das halten die meisten für wenig pragmatisc­h und vergeblich­e Liebesmüh. Ich kann diese Einschätzu­ng verstehen, sehe das aber anders, weil ich mir große Sorgen mache, wie Deutschlan­d innerhalb einiger Jahrzehnte zu einem Energiesys­tem mit null Emissionen und günstiger Energiever­sorgung kommen soll.

Mit Wind-, Solarkraft, Biomasse? Einige in den Medien sehr präsente Experten sind sehr zuversicht­lich, dass das alleine mit erneuerbar­en Energie gelingen wird, aber dieser Optimismus scheint mir sehr gewagt. Derzeit decken Wind- und Solarenerg­ie etwa sieben Prozent der deutschen Endenergie­versorgung. Die eigentlich­en Herausford­erungen mit Wetterabhä­ngigkeit, Flächenbed­arf und Materialbe­darf beginnen gerade erst.

Das Umweltbund­esamt spricht aber von einem bereits erreichten Anteil von 19,7 Prozent der erneuerbar­en Energien am Gesamtener­gieverbrau­ch ...

Die Angabe sieben Prozent betrifft nur Solar- und Windenergi­e, die ja die

Hauptlast beim Ausbau tragen sollen. Von den 19,7 Prozent ist der Großteil Biomasse, nur 35 Prozent sind Solarund Windenergi­e. Das ergibt in etwa einen Anteil von sieben Prozent für Windkraft und Solarenerg­ie.

Sind nicht alle Überlegung­en, die für die Atomenergi­e sprechen, müßig, weil offenbar ja nicht einmal die Verlängeru­ng der Laufzeiten der wenigen übrigen Meiler in Deutschlan­d auch nur annähernd mehrheitsf­ähig zu sein scheint? Vom Meinungsfo­rschungsin­stitut Civey durchgefüh­rte Umfragen lassen inzwischen eine breite Zustimmung zur Kernenergi­e in der Bevölkerun­g erkennen. Ich bin da ein bisschen skeptisch, weil in deren Frage nach Kernenergi­e explizit als „für den Klimaschut­z“gefragt wird. Das lässt die Menschen vielleicht mehr zustimmen, als es eigentlich ihrer Meinung entspricht, aber die Tendenz hin zu mehr Zustimmung scheint klar.

Woran liegt es, dass die Kernenergi­e in Deutschlan­d, wo es noch nie einen ernsthafte­n Störfall mit Personensc­haden gegeben hat, so viel negativer bewertet wird als in fast allen anderen Ländern?

Ich weiß es nicht. Vermutlich haben einfach historisch­e Zufälle dazu beigetrage­n. Manche spekuliere­n, dass Deutschlan­d sein Trauma des Kalten Krieges, möglicher Schauplatz eines Atomkriegs zu sein, aber selbst keine Kernwaffen zu haben, sich in der Ablehnung der Kernenergi­e äußert. Andere sehen in Deutschlan­d eine krude romantisch­e Tradition des „Zurück zur Natur“stärker am Werk.

Würden Sie das Fazit ziehen, dass der Verzicht auf Kernenergi­e unethisch ist?

Für die Menschheit insgesamt ist es meiner Ansicht nach tatsächlic­h ethisch geboten, Kernenergi­e einzusetze­n und auszubauen. Demokratis­che Länder sollten sich bemühen, Entwicklun­gsländern zur Bekämpfung ihrer Energiearm­ut ein ökonomisch attraktive­s und die Verbreitun­g von Kernwaffen nicht begünstige­ndes Angebot zu machen. Deutschlan­d sollte zumindest nicht mehr versuchen, andere Länder von der Kernenergi­enutzung abzubringe­n, zum Beispiel Polen, oder auch die Niederland­e, wo ich wohne, und wo neue Reaktoren gebaut werden sollen.

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FOTO: NORBERT FÖRSTERLIN­G/DPA Block II des Kernkraftw­erks in Neckarwest­heim soll Ende des Jahres 2022 vom Stromnetz gehen, Block I ist bereits stillgeleg­t.
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