Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Speicher müssen voll werden
Was genau hinter Habecks Gas-Sparplänen steckt und wie die Industrie darauf reagiert
BERLIN - Weil die vereinbarten Gaslieferungen aus Russland teilweise ausbleiben, hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Sonntag neue Notmaßnahmen angekündigt, um die Gasspeicher für den kommenden Winter zu füllen.
Industrieunternehmen sollen eine Belohnung erhalten, wenn sie auf bestimmte Gasmengen verzichten. Dieses Auktionsverfahren – also eine Art Versteigerung – soll grundsätzlich so ablaufen: Industriefirmen, die Gas für ihre Produktion einkaufen, decken sich in der Regel mit längerfristigen Lieferverträgen ein. So wissen sie, wieviel Brenn- und Rohstoff sie in den kommenden Monaten erwarten können. Der Staat will den Unternehmen nun einen Preis dafür zahlen, dass sie bestimmte Mengen an ihn abgeben.
Mehrere Unternehmen werden in dem Verfahren dann wohl gleichzeitig Gasmengen zu unterschiedlichen Preisen anbieten. Die Unternehmen müssen sich dabei überlegen, auf die Herstellung welcher Produkte sie in der nächsten Zeit verzichten können. Sie berechnen, welche Umsatzausfälle ihnen das beschert, und ob die Einnahmen aus dem Gasverkauf an den Staat ein ausreichender Ausgleich sind. Auf diese Art soll die Produktion dort verringert werden, wo die Einschränkungen am wenigsten Schaden anrichten.
Die billigsten Angebote der Firmen erhalten dann den Zuschlag. Diese Mengen übernimmt der Staat und speichert sie in die unterirdischen Lager ein, um im kommenden Winter die Versorgung zu gewährleisten. Die Kosten werden auf alle Gasverbraucher umgelegt. Die Rechnungen für die Privathaushalte und Unternehmen steigen dadurch um gewisse Beträge. Um wie viel, lässt sich noch nicht sagen. Das Verfahren wird unter anderem die Bundesnetzagentur organisieren, die für das Bundeswirtschaftsministerium den Energiemarkt reguliert. Außerdem daran beteiligt ist der Trading Hub Europe (THE) – eine Tochterfirma der großen deutschen Gasnetzbetreiber, die dafür sorgen muss, dass die Speicher Ende des Jahres voll sind.
Zusätzlich soll THE weitere Gasmengen auf den internationalen Märkten kaufen, damit die Speicher trotz der russischen Gaskürzungen Ende November zu 90 Prozent gefüllt sind. Auch wegen des hohen Weltmarktpreises ist dafür viel Geld nötig, das sich die Firma nicht mal eben schnell bei Geschäftsbanken leihen kann.
Deshalb wird die öffentliche KfW-Bank dem Trading Hub einen Kredit über 15 Milliarden Euro geben. Der Bund übernimmt dafür eine „Garantie“in gleicher Höhe – für den Fall, dass die KfW die Mittel von THE nicht zurückerhält. Im Schreiben des parlamentarischen Finanzstaatssekretärs Florian Toncar (FDP) an den Haushaltsausschuss des Bundestages, das der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt, ist von einer „Eventualverbindlichkeit“die Rede. Das Geld wird also nicht ausgegeben, sondern steht nur als Sicherheit bereit. Deshalb erhöht sich die Neuverschuldung im Bundeshaushalt wohl nicht. Unionsfraktionschef Friedrich Merz hatte am Sonntagabend angebliche neue Kredite kritisiert.
Sollte THE beim Verkauf des Gases aus den Speichern später weniger einnehmen, als es jetzt kostet, darf die Firma den Verlust auf die Gasverbraucher umlegen. Möglicherweise schlägt sich also auch diese Maßnahme
in den Rechnungen der Privathaushalte und Firmen nieder.
Neben all diesen Plänen geht laut Habeck aber wohl auch kein Weg daran vorbei, dass wieder mehr Kohlekraftwerke zum Einsatz kommen. Der Rückgriff auf Kohle zur Stromerzeugung sei „bitter, aber es ist in dieser Lage schier notwendig, um den Gasverbrauch zu senken“, erklärte der Grünen-Politiker. Kohlekraftwerke sollen die Stromerzeugung in mit Erdgas befeuerten Kraftwerken soweit wie möglich ersetzen. Die Befüllung der Gasspeicher soll vorangetrieben werden.
Aus der Industrie kommt Zustimmung für die Pläne von Habeck. „Wir müssen den Verbrauch von Gas so stark wie möglich reduzieren, jede Kilowattstunde zählt“, sagte Industriepräsident Siegfried Russwurm. „Priorität muss sein, die Gasspeicher zu füllen für den kommenden Winter.“
Die in Reserve stehenden Braunkohlekraftwerke könnten in einem relativ überschaubaren Zeitraum wieder angefahren werden, sagte die Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Energie
und Wasserwirtschaft (BDEW), Kerstin Andreae, am Montag im ARD-„Morgenmagazin“. Bei Steinkohle gehe es auch, aber dafür müsste diese importiert und bevorratet werden.
Im ZDF-„Heute Journal“zeigte sich Habeck zuversichtlich, dass die Versorgung für kommenden Winter sichergestellt werden könne. „Entscheidend ist, dass die Gasspeicher zum Winter hin gefüllt sind – und zwar bei 90 Prozent liegen.“Derzeit seien es 57 Prozent. Es sei „eine Art Armdrücken“, bei dem Kremlchef Wladimir Putin zunächst den längeren Arm habe. „Aber das heißt nicht, dass wir nicht durch Kraftanstrengung den stärkeren Arm bekommen könnten“, sagte Habeck.
Russwurm sagte, Deutschland müsse möglichst viele andere Quellen auftun. Unternehmen müssten umstellen zum Beispiel auf Öl, wo das gehe. „Aber eine Reihe industrieller Prozesse funktioniert nur mit Gas. Ein Gasmangel droht zum Stillstand von Produktion zu führen.“Die Gasverstromung müsse gestoppt und es müssten sofort Kohlekraftwerke aus der Reserve geholt werden, bekräftigte Russwurm. Erneuerbare Energien müssten deutlich beschleunigt werden.
Unionsfraktionsvize Jens Spahn kritisierte, „hätten wir im März schon begonnen, mehr Kohlekraftwerke, weniger Gaskraftwerke laufen zu lassen, dann wären die Speicher jetzt vielleicht schon zehn Prozent voller“– Habeck gehe zudem nur den halben Weg, da er Kernkraftwerke nicht länger laufen lasse, sagte der CDU-Politiker im ARD-„Morgenmagazin“. Bevor Bürger zum Frieren aufgefordert würden, sollte die Politik alle anderen Alternativen prüfen.
Der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie, Wolfgang Große Entrup, sagte, Deutschland müsse zügig und pragmatisch alle Möglichkeiten nutzen, Gas da einzusparen, wo es ersetzbar sei. Vor allem beim Umstieg der Stromgewinnung von Gas auf Kohle müssten umgehend alle Kapazitäten genutzt werden können. Das von Habeck angekündigte Gasauktionsmodell zur Einsparung von Industriegas begrüßte Große Entrup als marktwirtschaftliches Instrument.
Ingbert Liebing, Hauptgeschäftsführer des Stadtwerkeverbands VKU, sagte, „vor allem eine Rückkehr von Kohlekraftwerken an den Strommarkt ist zielführend“. Der VKU warne aber vor einer pauschalen Untersagung von Gasverstromung oder Strafzahlungen. Für den Maschinenbauverband VDMA sagte Präsident Karl Haeusgen, die Branche unterstütze das Vorhaben, einen reduzierten Gasverbrauch durch Ausschreibungen zu erreichen. „Dies steuert die Reduzierung dorthin, wo der geringste Schaden entsteht.“Wirkungsvoll, aber sehr sensibel sei dagegen der mögliche Eingriff in die Stromerzeugung.
Kritisch sieht der Mittelstand die Pläne. „Angesichts der reduzierten russischen Gaslieferungen macht sich im Mittelstand zunehmend die Sorge breit, bei der Energieversorgung zwischen den warmen Wohnzimmern von Privatverbrauchern und dem Rohstoffbedarf der Großindustrie den Kürzeren zu ziehen“, sagte Markus Jerger, Geschäftsführer des Bundesverbandes der Mittelständischen Wirtschaft (BVMW), dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Montag). Habecks Vorhaben, Gas über Auktionen zu verteilen, könne bedeuten, dass kleine und mittlere Unternehmen beim Bieten nicht mehr mithalten.