Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein musikalisc­hes Lagerfeuer

Ein fulminante­s Wochenende erlebten Besucher auf dem Southside-Festival – Die Künstler boten über drei Tage einen generation­enübergrei­fenden Sound

- Von Stefan Rother

Das „Lagerfeuer der Republik“nannte man früher gerne Fernsehsen­dungen, bei denen sich die gesamte Familie vor der heimischen Flimmerkis­te versammelt­e und bei denen möglichst alle Generation­en und Geschmäcke­r bedient wurden: was Knalligere­s für die Jüngeren, was von früher für die Älteren und ein paar Sachen, auf die sich alle einigen konnten. Im Festivalge­werbe hat das Southside, das am Wochenende in Neuhausen ob Eck vor 65 000 Besuchern stattfand, in Teilen diese Aufgabe übernommen. Für die eher jüngeren gab es provokativ-ballernden Hiphop von K.I.Z., Albernes von SDP, Rap zwischen „Bling-Bling“und Girlpower von Nura und Juju und unpolitisc­he Partymusik von Charlie XCX. Ältere Semester erlebten sicher nicht zum ersten Mal die PunkrockPo­niere von Bad Religion. Die sind seit gut vier Jahrzehnte­n im Geschäft und ziehen mit unbeirrbar­er Energie über die Bühnen dieser Welt.

Die Killers wecken dagegen eher Erinnerung­en an die hedonistis­chere Seite der 1980er-Jahre – die aus Las Vegas stammende Band setzt bei ihrem Rock mit Electropop-Elementen auf die ganz große Showbühne und hätte sich damals wie heute sicher auch gut bei "Wetten, dass..?" gemacht. Und die Hives aus Schweden bieten einerseits eine ganz auf die wesentlich­en Bestandtei­le reduzierte Rockmixtur und knüppeln ihre Gute-LauneNumme­r gerne in unter drei Minuten raus. Anderersei­ts haben sie ihre Egos auf maximale Größe aufgeblase­n und schaffen durch diese ironische Brechung den Anschluss an das Hier und Jetzt: Sänger Howlin’ Pelle Almqvist findet immer neue Superlativ­e für das eigene Schaffen, schmückt die Bandgeschi­chte bis in graue Vorzeiten hin aus und dekliniert sämtliche Formen der Publikumsi­nteraktion durch – ein großer Spaß.

All diese Bands bedienen natürlich nicht nur eine Ziel- und Altersgrup­pe; darüber hinaus gibt es auch solche, die besonders erfolgreic­h im Brückenbau­en sind. Etwa die Twenty One Pilots aus Ohio am Sonntagabe­nd, die entgegen ihrem Namen im Kern ein Duo aus Frontmann Tyler Joseph und Schlagzeug­er Josh Dun sind, ergänzt um einige sehr gute Musiker. Für ihren Auftritt hatten sie ein Programm zusammenge­stellt, für das der Titel „ein Kessel Buntes“noch untertrieb­en wäre: Zunächst treten die beiden mit Bankräuber-Mützen auf die Bühne und musizieren drauflos, dann schlägt Dun einen Purzelbaum rückwärts, die Masken fallen, weitere Musiker kommen hinzu und plötzlich sitzt Joseph mit einer Elton-John-Brille am Klavier und spielt dort konsequent­erweise dessen Titel „Benny and the Jets“. Dazu schreien junge Mädchen in der ersten Reihe vor Begeisteru­ng und halten Schilder mit persönlich­en Botschafte­n hoch, während auch das gesamte übrige Festivalpu­blikum gebannt wartet, was denn noch so alles auf sie zukommt. Da gibt es etwa eine Trompetens­oloVariati­on

von Nenas „99 Luftballon­s“– und zuvor tatsächlic­h ein Lagerfeuer auf der Bühne. Die lodernden Flammen, die aus der Konstrukti­on emporsteig­en, beleuchten die Musiker, die sich mit akustische­n Instrument­en um sie versammeln – „unplugged“einmal ganz anders.

Ein sprichwört­licher Lagefeuer-Moment also, aber auch Seeed am Vorabend schafften es, mit ihrer Mixtur aus Reggae, Dancehall und einigen anderen Stilen, ein sehr buntes Publikum zum Tanzen zu bringen. Die brutal lauten Beats des holländisc­hen DJs Martin Garrix pusteten dagegen im Anschluss wohl einige Freunde handgemach­ter Musik zurück auf den Zeltplatz.

Weniger kontrovers war dagegen das Programmfi­nale in der Nacht von Freitag auf Samstag ausgefalle­n: Da boten Rise Against einen denkwürdig­en Auftritt. Seit gut zwei Jahrzehnte­n rufen die Punkrocker zur Revolution auf – es sollte aber auch die richtige sein, wie Sänger Tim McIlrath in Neuhausen betonte: „Wenn es Elemente von Rassismus oder Homophobie gibt – dann seid ihr in der falschen Revolution“. Der Aktivist für Tierrechte ist „straight edge“, lehnt also jegliche Rauschmitt­el ab. Wer vor diesem Hintergrun­d aber tiefernste­s Predigertu­m erwartet, liegt falsch – auch jenseits der Botschafte­n kann der melodische Hardcore-Punk der Band aus Chicago überzeugen. Und als McIlrath den 2008er-Song „Hero of War“anlässlich des Krieges in der Ukraine anstimmte – und Deutschlan­d für die Aufnahme von Geflüchtet­en dankt – machte sich eine durchaus bewegte Stimmung auf dem mitternäch­tlichen Gelände breit.

Generation­en und Welten brachte schließlic­h die Indie-Rockerin LP zusammen. Die vermutlich 1968 geborene Musikerin Laura A. Pergolizzi singt mit tiefer Stimme Songs, die man sich auch auf Folkund Hippie-Festivals der 60er- und 70er-Jahre vorstellen könnte. Und zwischendu­rch durfte eine junge Frau mit Regenbogen­flagge auf die Bühne kommen und wie gewünscht die Sängerin umarmen und küssen – „Love and Peace“sind also auch nach der Corona-Pause auf den Festivals nicht aus der Mode gekommen. Da wäre es vielen wohl auch ohne die am frühen Samstagabe­nd brutzelnde­n Glutofen-Temperatur­en ganz wohlig warm geworden – wie vor einem knisternde­n Lagerfeuer eben.

Fotos, Videos und Bilanz

gibt es zu sehen unter www.schwäbisch­e.de/ southside2­022

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FOTOS: LINDA SEISS, ANDREAS MEIER, FELIX KÄSTLE, STEFAN ROTHER Von links oben im Uhrzeigers­inn: Das Festival-Riesenrad bei Nacht, die Blue Stage bei Gluthitze, Festival-Fans vor der Bühne, die Samstagnac­ht mit Dellé und Peter Fox von Seeed.

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