Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Russisches Öl aus Indien
Über den Subkontinent kommt weiterhin Rohöl aus dem Land Wladimir Putins in die EU
FRANKFURT - Die Länder der EU wollen möglichst kein Öl mehr aus Russland kaufen. So lautet die Quintessenz der sechsten Sanktionsrunde gegen das Land, das die Ukraine mit einem Krieg überzogen hat. Bis Ende des Jahres sollen die Lieferungen russischen Erdöls auf dem Seeweg eingestellt werden, über Pipelines sind Ausnahmen möglich. Insgesamt sollen damit 90 Prozent des Flusses russischen Öls nach Europa versiegen. Mit den Sanktionen von Anfang Juni verfolgt Europa einmal mehr das Ziel, Russlands Einnahmen zu schwächen. Das soll die Finanzierung des Krieges erschweren. Allerdings funktioniert das bislang nicht – aus unterschiedlichen Gründen.
Zunächst einmal waren nach einem Einbruch im März die russischen Ölexporte bereits wieder auf Vorkriegsniveau gestiegen. Laut internationaler Energieagentur nahmen dabei insbesondere die Exporte nach Indien stark zu. Seither haben sich die indischen Importe russischen Öls drastisch gesteigert. Um das an einer Zahl festzumachen: Nach Daten des Analyseunternehmens Kepler sind die Importe Indiens im Juni auf rund eine Million Barrel pro Tag in die Höhe geschossen. Damit liegen sie um mehr als das 30-Fache über den Werten von vor dem Krieg.
Auch China hat seine Öleinkäufe aus Russland in die Höhe geschraubt. Beide Länder springen damit in die Bresche und füllen die Lücke, die sich durch die Sanktionen unter anderem der EU auftut. Die beiden riesigen Länder verhalten sich gegenüber Russland „neutral“– das ist der politische Hintergrund des florierenden Handels. Ökonomisch sind die Ölimporte aus Russland für China und Indien derzeit äußerst lukrativ. Denn das russische Ural-Öl ist am Weltmarkt deutlich billiger als beispielsweise die Nordseesorte Brent. Seit März liegt die Differenz bei 30 bis 35 Dollar pro Fass. Das liegt unter anderem daran, dass Russland durch die Sanktionen westlicher Staaten auf Teilen seines Öls sitzen bleibt. Der damit entstehende Überschuss drückt den Preis. So haben sich neue Abflusskanäle in Richtung China und Indien ihren Weg gebahnt.
Unter dem Strich führt das nach Berechnungen von Experten dazu, dass trotz Preisnachlass und sinkender Ölausfuhren insgesamt die Einnahmen Russlands durch den Ölverkauf heute höher sind als vor dem Krieg. Denn neben neuen Abnehmern für sein Öl profitiert Russland auch davon, dass das Niveau der Ölpreise seit Kriegsbeginn allgemein nach oben gegangen ist. „Es gibt dieses Dilemma, dass Wladimir Putin mehr Geld verdient, obwohl er geringere Mengen verkauft“, fasst Ökonom Jens Südekum von der Universität Düsseldorf diese Entwicklung im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“zusammen.
China und Indien wiederum sind energiehungrig. Und speziell Indien ist daran interessiert, im Sinne des sozialen Zusammenhaltes im Land die Inflation gering zu halten. Billiges Öl ist da eine mächtige Stellschraube. Auch die Türkei hat ihre Einfuhren an russischem Öl in den vergangenen Wochen und Monaten erhöht. Das Land kämpft mit einer galoppierenden Inflation von mehr als 70 Prozent.
Indiens Regierung kommentierte die verstärkten Ölkäufe aus Russland jüngst diplomatisch. Man schicke keine Leute raus und sage, „kauft russisches Öl“, erkläre der Außenminister Indiens Anfang Juni. Doch sei man durchaus daran interessiert, den Leuten zu sagen, „geht Öl kaufen“. Eine politische Botschaft würde er dem nicht beimessen. Man kaufe einfach das „beste“Öl am Markt. Politisch brisant für die Sanktionsbemühungen hierzulande allerdings ist, dass russisches Öl über den Umweg Indien offenbar in „veredelter“Form seinen Weg nach Europa findet. Denn während die Lager der indischen Mineralölkonzerne mit russischem Öl volllaufen, verarbeiten die angeschlossenen Raffinerien das Öl zu Diesel und anderen Produkten weiter. Und diese Produkte wie Diesel oder Benzin wiederum verkaufen die indischen Unternehmen in andere Länder weiter, unter anderem die EU. Dank des billigen russischen Öls ergeben sich nebenbei erfreulich hohe Margen für solche Geschäfte.
So verfolgt etwa das Centre for Research and Clean Air in Helsinki den Weg russischen Öls und seine Rolle, die es für die Finanzierung des Ukraine-Krieges spielt. Die täglichen Schiffsladungen mit raffinierten Ölprodukten von Indien in Richtung EU hätten sich seit Kriegsbeginn um rund ein Drittel gesteigert, erklärten die Analysten in Helsinki. Um solche Flüsse russischen Öls wirkungsvoll zu unterbinden, könnten sanktionswillige Staaten Sekundärsanktionen gegen andere Staaten verhängen, die wie China und Indien das Öl von Russland weiterhin kaufen. Durchgesetzt hatten solche Sanktionen zuletzt die USA gegen Iran und seine Handelspartner.
Allerdings dürfte ein solcher Schritt in Hinblick auf Handelsnationen wie China und Indien unrealistisch sein. „Da wäre dann ein handfester Konflikt mit China und Indien die Folge, den wir uns in der jetzigen Situation wahrscheinlich nicht leisten könnten“, meint Jens Südekum.