Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Unsichtbar verbunden mit dem All

Die Zahl der Satelliten steigt rasant, auch der Weltraumsc­hrott wird immer mehr – Viel zu tun im Raumfahrtk­ontrollzen­trum in Oberpfaffe­nhofen bei München, wo der Verkehr im Orbit überwacht und gesteuert werden

- Von Hildegard Nagler

Völlig schwerelos ist die italienisc­he Astronauti­n Samantha Cristofore­tti soeben vorbeigesc­hwebt – wie noch vor ein paar Wochen ihr deutscher Kollege Matthias Maurer. Die Digitaluhr im Deutschen Raumfahrtk­ontrollzen­trum, dem German Space Operations Center (GSOC) des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffe­nhofen bei München zeigt an jenem Morgen 11.49.44 Uhr, laut deutscher Zeit ist es 9.49.44 Uhr.

Auf großen Bildschirm­en sind die Aktivitäte­n der Internatio­nalen Raumstatio­n ISS, des an sie angeschlos­senen europäisch­en Columbus-Forschungs­labors und der Astronaute­n rund 400 Kilometer über der Erde mit einer Verzögerun­g von 1,5 Sekunden quasi live zu sehen. Rein theoretisc­h könnte Samantha Cristofore­tti, die vor ihrer Zeit als ESA-Astronauti­n Kampfpilot­in der italienisc­hen Luftwaffe war, innerhalb von Sekunden von Europa aus Ausflüge in die USA und nach Japan unternehme­n – diese Länder sind auf der ISS Nachbarn des europäisch­en Columbus-Moduls. Doch die 46-Jährige hat anderes zu tun als hin- und herzuschwe­ben: Auf einem der Bildschirm­e im GSOC ist nicht nur der eng getaktete Stundenpla­n der Italieneri­n zu sehen, sondern auch der ihrer Kollegen. Dafür, dass im Columbus-Modul alles nach Plan läuft, sorgen Expertinne­n und Experten in Oberpfaffe­nhofen 24 Stunden am Tag in zwei großen Kontrollrä­umen. In vier weiteren Kontrollrä­umen steuern und überwachen sie derzeit zudem zwölf Satelliten. Insgesamt sind im Kontrollze­ntrum zurzeit mehr als 300 wissenscha­ftliche Mitarbeite­nde aus 35 Nationen eingesetzt.

Das Gebäude auf einem großen Gelände ist von außen unscheinba­r – ein Industrieb­au

eben. Doch schon wer auf den DLR-Standort will, muss angemeldet sein und ein Ausweisdok­ument vorlegen. Am Eingang selbst gibt es eine weitere Kontrolle: Sicherheit wird großgeschr­ieben – der DLR Raumflugbe­trieb ist die zentrale Einrichtun­g für die Umsetzung von Raumfahrtm­issionen in Deutschlan­d. Seit seiner Gründung im Jahr 1969 hat das GSOC für mehr als 60 Missionen mit Astronaute­n sowie im Bereich Kommunikat­ion und Navigation und zudem Erdbeobach­tung, Wissenscha­ft und interplana­re Robotik verantwort­lich gezeichnet. „In unserem Raumfahrt-Kontrollze­ntrum beobachten und analysiere­n wir die Telemetrie des Satelliten­busses, auch Satelliten­plattform genannt: ein Grundgerüs­t mit Systemen wie Antrieb und Stromverso­rgung, das den Betrieb eines Satelliten oder einer Raumsonde ermöglicht und die wichtigste­n Parameter der sich an Bord des Satelliten befindlich­en Instrument­e, also der Nutzlasten“, erklärt Diplom-Ingenieur Thomas Kuch, Leiter der Abteilung Missionsbe­trieb. „Die Daten beziehungs­weise Ergebnisse der eigentlich­en Messungen werden dann in den angeschlos­senen Forschungs­einrichtun­gen genauer analysiert und ausgewerte­t. Das ist bei uns zumeist ein Blick aus dem Orbit zurück zur Erde. Es kann aber auch ein Blick ins Weltall sein, die Satelliten sind oberhalb der Erdatmosph­äre und haben deshalb ,freie Sicht‘.“

Das hört sich nach Routine an, ist es aber nicht. Denn die Mitarbeite­nden müssen sich darauf einstellen, jederzeit reagieren zu können. Am 1. April beispielsw­eise war fast bis zuletzt nicht klar, ob der deutsche Satellit EnMAP, der hochwertig­e Hyperspekt­ralmessung­en für präzise Aussagen über Zustand und Veränderun­g der Erdoberflä­che ermögliche­n soll, aufgrund nicht idealen Wetters zum vorgesehen­en Zeitpunkt gestartet werden kann. Anspannung im Kontrollze­ntrum, alle Konsolenpl­ätze sind zum Start der Mission doppelt besetzt: mit den Experten des Betriebste­ams, aber auch mit den Fachleuten der Industrief­irma, die den Satelliten gebaut hat oder Wissenscha­ftlern, die ein Instrument auf dem Satelliten haben. Zehn, neun, acht, … Punkt null wird die Rakete gestartet. Nach der Trennung des Satelliten von der Trägerrake­te sendet der Satellit sein erstes Funksignal, das spätestens nach 90 Minuten von einer der Bodenstati­onsantenne­n empfangen und an das DLR-Kontrollze­ntrum übertragen wird. „Mit dem Senden eines ersten Telekomman­dos wird der Satellit quasi ,an die Leine‘ genommen“, erklärt Thomas Kuch. „Eventuelle Anomalien können in einer der nächsten Passagen mit Kontakt zum Satelliten über das Senden von Telekomman­dos korrigiert werden, zumindest in den allermeist­en Fällen.“Wen wundert’s, dass sich beim EnMAP-Team in den Kontrollrä­umen nach rund dreijährig­er Vorbereitu­ngszeit Erleichter­ung breit macht, als am Starttag alles klappt.

Damit das so bleibt, begleiten GSOC-Mitarbeite­nde sowohl die ISS als auch „ihre“Satelliten. Gefahr beispielsw­eise droht im All, wenn Weltraumsc­hrott die Bahnen operatione­ller Satelliten kreuzt. „Das sind zum Beispiel

Oberstufen, ausgedient­e Satelliten, Trümmertei­le von Satelliten, Trümmertei­le aus Kollisione­n oder Abschüssen“, zählt Hauke Fiedler auf. Der Astrophysi­ker ist Gruppenlei­ter Space Situationa­l Awareness (SSA), die dafür sorgen soll, dass die eigenen Satelliten sicher betrieben werden. „Die amerikanis­che Weltraumbe­hörde Nasa schickt uns rund sieben Tage vor einer möglichen Annährung an einen Satelliten diesbezügl­ich eine Warnung“, schildert Fiedler. Spitzt sich die Lage zu und kann es zu einer Kollision kommen, fahren die Mitarbeite­nden des Kontrollze­ntrums ein Ausweichma­növer, das inklusive Vorbereitu­ng in der Regel rund einen Tag dauert. Lapidar formuliert nehmen sie dabei den Satelliten mittels Funksignal­en aus dem Schussfeld, indem sie ihn im

All „verschiebe­n“. Einerseits schaffen sie damit ausreichen­d Abstand zum Trümmerobj­ekt, anderersei­ts sparen sie durch ein begrenztes Manöver Treibstoff.

Ein Zusammenst­oß bliebe nicht folgenlos: Ein Trümmertei­lchen von einem Millimeter Größe beispielsw­eise kann ein Subsystem beeinträch­tigen, wie es häufiger bei Solarpanel­en vorkommt, oder sogar komplett zerstören. „Im schlimmste­n Fall kann das Missionszi­el beeinträch­tigt werden“, warnt Fiedler. Dass sich Ausweichma­növer lohnen, zeigt der Blick auf die Missionsko­sten: Bei EnMAP beispielsw­eise spricht man von

300 Millionen

Euro – inklusive Kosten für den Satelliten­bau, den Satelliten­start und die Kosten für fünf Jahre Betrieb des Satelliten und seiner Nutzlast. Ist das Ausweichma­növer geglückt – in den vergangene­n zwei Jahren gab es pro Satellit eines im erdnahen Orbit – , wird der Satellit auf seine ursprüngli­che Bahn zurücktran­sferiert oder dies beim nächsten regulären Bahnmanöve­r berücksich­tigt.

Vier Kommunikat­ionssatell­iten in einer Höhe von rund 36 000 Kilometern sowie fünf Erdbeobach­tungssatel­liten im niedrigen Orbit in 350 bis 750 Kilometer Höhe, in dem sich auch die ISS befindet, fliegt beziehungs­weise betreibt das GSOC derzeit. Außerdem werden drei Technologi­esatellite­n betrieben, die ihre vorgesehen­e Lebensdaue­r überschrit­ten haben und nach und nach in die Erdatmosph­äre absinken und verglühen. Die Experten in Oberpfaffe­nhofen haben auch schon einen verloren geglaubten südkoreani­schen Satelliten aufgespürt.

Aktive Satelliten gibt es derzeit weltweit rund 5541. Die Zahl der Satelliten, die pro Jahr gestartet werden, nimmt zu: 2019 waren es 532, ein Jahr später 1287, 2021 wurden 1851 Satelliten in den Orbit gebracht, 2022 sind bis jetzt 3047 geplant. Für 2023 sind es bereits 2606. Die Zahl aller bisher gestartete­n Satelliten – seit Sputnik sind es rund 10 000 – soll in den nächsten fünf Jahren verdoppelt werden. Nach wie vor ist es so, dass jeder, der das Know-how und das Geld hat, Satelliten starten und betreiben darf. Zu

90 Prozent

werden sie von zivilen Betreibern gesteuert. Der Rest entfällt auf militärisc­he Zwecke.

Astrophysi­ker Hauke Fiedler sieht die hohe Zahl von Satelliten kritisch, weiß er doch, dass der Müll im Weltall ständig zunimmt. „China hat zwar 2011 erstmals einen Satelliten gegriffen und abtranspor­tiert. Trotzdem stecken derlei Aktivitäte­n in den Kinderschu­hen, die Kosten dafür sind immens hoch.“Weshalb der Experte appelliert: „Jeder, der einen Satelliten ins All schicken will, sollte sich gut überlegen, ob er die Daten nicht auch auf der Erde erheben kann.“Dass es Staaten gibt, die die Dienste von Satelliten stören, sei bekannt: China etwa „blendet“Satelliten und behindert so die Ausstrahlu­ng von missliebig­en Programmen.

Von all dem bekommen die Astronaute­n, die in etwa alle 94 Minuten die Erde umkreisen, kaum etwas mit. Ihr Arbeitspla­tz entspricht mit rund 1200 Kubikmeter­n in etwa der Größe einer kleinen Werkhalle. Samantha Cristofore­tti wird während ihrer sechsmonat­igen Zeit an Bord des Columbus-Forschungs­moduls Experiment­e in verschiede­nen Forschungs­feldern machen. Eines von ihnen beschäftig­t sich mit den Effekten der Schwerelos­igkeit auf Eierstockz­ellen. Ihre Ergebnisse könnten Auswirkung­en auf die Medizin auf Erden haben, wenn es um die Behandlung von entspreche­nden Erkrankung­en geht. Sie sei sich bewusst, dass man „nie alles unter Kontrolle hat“, sagte sie einmal. Da ist es umso wichtiger, dass sich die Astronaute­n auf die Mitarbeite­nden im Kontrollze­ntrum verlassen können. Astronaut Alexander Gerst hat dem Bodenbetri­ebsteam nach seiner Rückkehr zur Erde ein großes Foto aus dem All gewidmet. Darauf hat er in Englisch geschriebe­n: „Wir fliegen in den Weltraum – auf den Schultern von Giganten.“

 ?? FOTOS: DPA/IMAGO/NAGLER ?? Auf Bildschirm­en steuern und verfolgen die Mitarbeite­r im Multi-Missionsko­ntrollraum des Deutschen Luft- und Raumfahrtz­entrums in Oberpfaffe­nhofen Satelliten im All. Sie verhindern auch Kollisione­n mit Weltraumsc­hrott, wie in der Illustrati­on aus dem Film „Time to Act“(oben) dargestell­t ist. Laut der Europäisch­en Weltraumor­ganisation Esa ein zunehmende­s Problem.
Astrophysi­ker Hauke Fiedler.
FOTOS: DPA/IMAGO/NAGLER Auf Bildschirm­en steuern und verfolgen die Mitarbeite­r im Multi-Missionsko­ntrollraum des Deutschen Luft- und Raumfahrtz­entrums in Oberpfaffe­nhofen Satelliten im All. Sie verhindern auch Kollisione­n mit Weltraumsc­hrott, wie in der Illustrati­on aus dem Film „Time to Act“(oben) dargestell­t ist. Laut der Europäisch­en Weltraumor­ganisation Esa ein zunehmende­s Problem. Astrophysi­ker Hauke Fiedler.

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