Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wo Windstrom ins Nirgendwo fließt
Für die Energiewende im Südwesten ist Südlink entscheidend. Doch das Fertigstellen der Nord-Süd-Leitung verzögert sich immer mehr. Baden-Württemberg könnte deshalb noch in Nöte kommen.
GROSSGARTACH - Warten auf Südlink. Dabei geht es um jene 800 Kilometer lange Stromleitung aus dem Norden, die Baden-Württemberg einst davor bewahren soll, dass die Lichter ausgehen. „Irgendwann wird sie schon hier ankommen – so Gott will“, spottet Franco Bihler.
Zusammen mit seiner Freundin macht der Freizeitsportler zufällig eine Radler-Pause, wo das große Werk sein Ziel hat: beim Umspannwerk Großgartach unweit von Heilbronn im württembergischen Unterland. Im Abendrot fallen Sonnenstrahlen auf Transformatoren und Gittermasten von Hochspannungsleitungen. Daneben wächst Getreide auf den Feldern. Aus Wiesen ragen knorrige Apfelbäume empor. Energie-Idylle. Zumindest geht einem dieser Gedanke kurz durch den Kopf.
Dann kommt beim Sinnieren wieder Südlink hoch. Eigentlich hätte die Leitung heuer stehen sollen, um durch Windkraft erzeugte Energie von der stürmischen Küste in den weit weniger windigen Südwesten zu bringen. Dies war der Ursprungsplan. Dessen Überarbeitung verschob dann den ersten Stromfluss auf 2026. Schließlich hieß es diesen Winter vom Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW: 2028 sei das entscheidende Jahr. „Das wird schon sportlich, ist aber machbar“, verkündet seitdem TransnetBWChef Werner Götz einer interessierten Öffentlichkeit.
Insider gehen inzwischen jedoch davon aus, 2030 sei eher ein realistischer Termin. Von ihnen ist des Weiteren zu hören, dass es dann auch höchste Zeit wird. Schließlich schreite die Energiewende hin zu erneuerbaren Stromquellen voran. Dies lässt sich bereits in Großgartachs Nachbarschaft feststellen.
Den zwei am Neckarufer gelegenen Kohleblöcken des Großkraftwerks Walheim könnte nächstes Jahr die Stunde schlagen. Nur weil der Ukraine-Krieg zur Energienot geführt hat, ist plötzlich ein Aufschub denkbar. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen arbeitet daran, Kohle länger verstromen zu lassen. Bei Kernkraft stellt er sich hingegen bisher stur. Dies betrifft unweit von Großgartach den zweiten und letzten Atommeiler von Neckarwestheim. Er soll Ende dieses
Jahres final heruntergefahren werden.
Es liegt also auf der Hand, dass Ersatz hermuss. Zumal manch erneuerbare Energiequelle im Südwesten bisher bescheiden liefert. Bei der Photovoltaik waren es 2021 laut Umweltund Energieministerium 12,8 Prozent der beim Verbraucher ankommenden Strommenge. Die Windkraft lag noch niedriger: 5,8 Prozent. Wenig erstaunlich, hat es Baden-Württemberg im vergangenen Jahr doch gerade mal geschafft, 28 neue Windräder aufzustellen.
In logischer Konsequenz setzt die grün-schwarze Landesregierung große Hoffnungen auf Südlink. Es ist das ambitionierteste Projekt der Energiewende in Deutschland. Weshalb es Umwelt- und Energieministerin Thekla Walker für höchst „bedauerlich“hält, dass sich der Leitungsbau immer weiter hinziehe.
All die Verzögerungen, beklagt die grüne Politikerin, würden das Ziel behindern, bis 2030 den Anteil erneuerbarer Energien auf 80 Prozent zu steigern und im Südwesten bis 2040 klimaneutral zu sein. Sie fordert deshalb: „Es ist nun dringend an der Zeit, die Genehmigungsverfahren drastisch zu beschleunigen, denn mit dem bisherigen Tempo werden wir es nicht schaffen.“
Sie legt damit eine Forderung auf den Tisch, die Teile der grünen UrAnhängerschaft ins Mark trifft. Voluminöse Genehmigungsverfahren inklusive über Jahrzehnte errungene Mitspracherechte im Ökobereich gelten bei ihnen als scharfe Waffe im Kampf um jeden Käfer oder jedes Gräslein. Widerstand gegen eine Änderung der bisherigen Praxis wurde bereits angekündigt, unter anderem von der Deutschen Umwelthilfe.
Bei TransnetBW-Chef Götz ist fast schon die Verzweiflung darüber spürbar, wie sich Hindernis um Hindernis vor der Stromleitung aufbaut: „Zwölf bis 15 Jahre Planungs- und Genehmigungsphase“, stöhnt der Mann. Die reine Bauzeit liege hingegen gerade mal bei vier Jahren.
Da mag es für ihn ein kleiner Trost sein, dass er im Umspannwerk Großgartach Bagger am Werk sieht. Dort haben zumindest schon die Arbeiten an einer Konverteranlage für Südlink begonnen. Über sie soll der Küstenstrom ins hiesige Netz transferiert werden. Ein neuer Sicherheitszaun mit Berührungsmeldern und Überwachungskameras steht schon. Eine Bautafel feiert „Vorgezogene Maßnahmen“. Bei Lichte betrachtet wirken die Worte aber fast schon zynisch, denn die Projektgeschichte hat schon 2012 begonnen.
Damals waren Überlegungen für neue Stromautobahnen wegen Ereignissen des Vorjahres nötig geworden. Anstoß gab der durch einen Tsunami ausgelöste Nuklearunfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima. Kurzentschlossen verlegte die unionsgeführte Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel darauf den Atomausstieg nach vorne auf Ende 2022.
Nun drohte aber im Süden eine wackelige Stromversorgung. Um dies in den Griff zu bekommen, hielten Energiestrategen besser vernetzte Leitungen quer durch Deutschland für nötig. Die Vorstellung: In Nord- und Ostsee wäre es möglich, ohne weitere Anrainer-Querelen riesige Windparks zu installieren. Der erzeugte Strom bräuchte nur noch Richtung Bodensee und Alpen transferiert werden.
„Da drängt die Zeit, denn wir stellen unsere Energieversorgung grundsätzlich um“, sagte Merkel damals. Grundvorstellung war eine Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung mit Startpunkt bei Brunsbüttel, einer Industrie- und Hafenstadt an der unteren Elbe.
Damit man vorankommt, sollte der Übertragungsnetzbetreiber Tennet TSO vor allem im Norden bauen, TransnetBW im Süden. Die Kapazität der Leitungen wurde auf vier Gigawatt angesetzt, eine Hälfte für BadenWürttemberg, die andere für Bayern. Grob berechnet entspricht die Leistung dem, was vier Atomkraftwerke ins Netz speisen. Theoretisch könnten rund zehn Millionen Haushalte mit Strom versorgt werden.
Die erdachte schöne neue Energiewelt bekam jedoch rasch Risse. Horst Seehofer, zu jenen Zeiten noch bayerischer Ministerpräsident und CSU-Chef, begann den Reigen. Ein Politiker, der sich immer zugutehielt, sein Ohr an Volkes Stimme zu haben. Diese flüsterte ihm, dass eine Trassenführung von Südlink durchs nördliche Bayern bis zum damals noch betriebenen Atomkraftwerk Gundremmingen an der Donau ein Unding sei.
Anfang 2014 kassierte Seehofer seine anfängliche Zustimmung zum Projekt. Er attestierte: „Einfach zu sagen, wir zeichnen einen Strich in die Karte und damit hat sich's, damit ist es nicht getan. Es wird gegen Bayern und die ganzen Kommunen hier keine Stromtrassen gegen unseren Willen geben.“Man solle Südlink doch über Baden-Württemberg führen und seinen Freistaat höchstens mit einer kleinen Abzweigung belästigen.
Die erzwungene Folge: ein Umdenken der Planer. Es verfestigte sich die Trasse von der Brunsbütteler Gegend nach Großgartach – mit einer Abzweigung, die 40 Kilometer ins Bayerische führt. Dann beschloss 2015 ein Energiegipfel der Regierung Merkel, so weit wie möglich auf Überlandkabel an Masten zu verzichten. Stromleitungen sollten künftig bevorzugt unter der Erde verlegt werden.
Das Vergraben ist zwar nach vorliegenden Informationen vier- bis siebenmal so teuer. Die Kosten von
Südlink steigen auf mehr als zehn Milliarden Euro. Die Politik glaubte aber, so Widerstände in der Bevölkerung minimieren zu können. Für Südlink bedeutete dies hingegen zurück auf Anfang. Gleichzeitig erwies sich die Vorstellung als falsch, Trassenanrainer wären nun pflegeleichter.
In Thüringen stellt sich selbst die Landesregierung mit einer Klage dagegen. Ihr passt die Trassenführung nicht. Wo die Leitung nur durchläuft und keinen örtlichen Nutzen bringt, gehen Anrainer auf die Barrikaden. Sie haben sich im Bundesverband der Bürgerinitiativen gegen Südlink organisiert. Eine Anfrage an ihn blieb ohne Antwort. Auf der Website der Leitungsgegner lässt sich aber lesen: „Wir fordern eine gerechte Verteilung der ,Lasten’ der Energiewende auf die Bevölkerung. Es kann nicht sein, dass die Menschen entlang des 800 Kilometer langen Trassenverlaufs allein die Nachteile tragen.“
Die Initiativen bezweifeln, dass gigantische Leitungen nötig sind. Sie würden bloß zum Geschäftemachen gebaut. Die im niedersächsischen Garbsen beheimatete Südlink-Gegnerin Mechthild Teuber-Hilbert betont im Internet: „Es geht nicht um die Energiewende in Deutschland, sondern es geht um europäischen Stromhandel. Und es geht darum, dass Geld verdient wird, es geht nicht um die Verbraucher!“Umweltverbände sekundieren bei dieser Haltung, etwa der BUND. Als Lösung für Versorgungsengpässe preisen sie eine dezentrale Stromversorgung. Salopp formuliert: Jedem sein Windrad.
Das Umwelt- und Energieministerium in Stuttgart sowie TransnetBW widersprechen. „Eine komplette Dezentralisierung der Stromversorgung ist nicht realistisch“, heißt es – zumal der Südwesten schon immer EnergieImporteur gewesen sei. Doch die Südlink-Gegner erweisen sich beim Durchkreuzen der Leitungspläne als kreativ. Beispielsweise haben Gemeinden auf der anvisierten Trasse noch schnell ein Gewerbegebiet geplant. Die Folge: langwierige juristische Streitereien.
Auf die zerstörerische Wirkung von Zeit setzt offenbar ebenso mancher Grundbesitzer. Insgesamt gibt es Zigtausende mit fast unzähligen Äckern, Wiesen oder Waldstücken. Für alle brauchen die Netzbetreiber eine Zustimmung des Eigentümers. Mag der Besitzer nicht, kann er Südlink-Leuten das Betretungsrecht verweigern. Wird es dann gerichtlich durchgesetzt, ist aber womöglich die Vegetationsperiode von Pflanzen für eine naturschutzrechtliche Untersuchung vorbei. Pech, Wiedersehen im nächsten Jahr. „Im aktuellen Tempo kann Südlink auch erst in 30 Jahren fertig werden“, ätzt ein TransnetBWMitarbeiter frustriert.
Sein Chef Götz macht indes auf Studien von Landesregierung und Energiewirtschaft aufmerksam. Demnach reicht im nächsten Jahrzehnt Südlink alleine schon nicht mehr für die Stabilisierung der Stromversorgung im Südwesten aus. Mindestens eine weitere solche Leitung aus dem Norden sei nötig. Er spielt damit auf ein Doppelprojekt an. Die südliche Hälfte davon heißt Ultranet. Endpunkt wäre Philippsburg, der Atomkraftstandort bei Karlsruhe. Die Ultranet-Umsetzung gestaltet sich aber ähnlich wie bei Südlink: ultralangsam.