Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Eisprinz und seine Geheimniss­e

Wie Archäologe­n mit Methoden aus der Industrie historisch­e Fundstücke datieren und Spuren deuten

- Von Hildegard Nagler FOTOS (3): ARCHÄOLOGI­SCHE STAATSSAMM­LUNG MÜNCHEN

TUSSENHAUS­EN

- Jahrhunder­telang ruhte der kleine Prinz mit seinem Hund von aller Welt vergessen in einem Steingrab. Im vergangene­n Herbst war es mit der Totenruhe im bayerische­n Tussenhaus­en vorbei. Die Gemeinde im Unterallgä­u will an einem leicht abfallende­n Hang ein neues Baugebiet erschließe­n. Doch Experten des Bayerische­n Landesamts für Denkmalpfl­ege warnen: Aufgrund der Topografie könnten im Boden Schützensw­ertes verborgen sein. Eine private Grabungsfi­rma wird beauftragt. Sie stößt auf etwas Einzigarti­ges: ein original erhaltenes Kindergrab aus dem siebten Jahrhunder­t, in dem ein Junge mit seinem Hund, seinem Schwert, einem mit Goldbeschl­ägen verzierten Waffengurt und reichem Schmuck ruht – so, wie er vor 1300 Jahren beigesetzt wurde. Es ist so gut erhalten wie kein bisher entdecktes Grab.

Die Archäologe­n müssen schnell handeln, denn Gefahr ist in zweierlei Hinsicht im Verzug: Mit der sensatione­llen Entdeckung beginnt auch der Verfallspr­ozess an der Luft. Zudem könnten sich Unbekannte an dem Kindergrab zu schaffen machen. Die Fachleute riskieren mit der Bergungsme­thode, die aus der Fleischbea­rbeitung bekannt ist, setzen alles auf eine Karte, wie es Archäologe Johann Friedrich Tolksdorf vom Bayerische­n Landesamt für Denkmalpfl­ege formuliert: Um das Grab für die Bergung zu stabilisie­ren, benetzen sie es mitsamt Kind, Hund und dem weiteren Inhalt Lage für Lage mit Wasser und schockfros­ten es mit -196 °C flüssigem Stickstoff. Sie machen das Kind zum Eisprinzen. Dann transporti­eren sie den rund 800 Kilogramm schweren Eisblock in eine minus 10 Grad kalte Kühlkammer des Labors der Restaurier­ungswerkst­ätten des Bayerische­n Landesamte­s für Denkmalpfl­ege in Bamberg.

Die Arbeitsmet­hoden der Archäologe­n haben sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n stark verändert. Noch 1856, als die ersten Pfahlbaute­n am Bodensee wiederentd­eckt wurden, gruben begeistert Bürger das Bodenseeuf­er mit allerlei Werkzeug um, suchten nach Relikten aus dieser wiederentd­eckten Zeit – jeder wollte sich damit schmücken. Ein Graus für heutige Archäologe­n, denn so wurden Spuren zerstört. Neben Fundstücke­n selbst bergen auch die gewachsene­n Sedimentsc­hichten darum herum wichtige Hinweise für die Forscher.

So belegt beispielsw­eise ein in Wasserburg am Bodensee in der Nähe einer Schädelkal­otte gefundenes Stück Holzkohle, dass in Wasserburg schon im Jahr 630 nach Christus gesiedelt wurde und nicht erst später, wie lange Zeit aufgrund einer Urkunde angenommen wurde. Die neue Erkenntnis brachte eine sogenannte C14-Datierung, für die es in Deutschlan­d nur sehr wenige Labore gibt. Die dabei angewandte Radiokarbo­nmethode beruht darauf, dass in abgestorbe­nen Organismen die Zahl bestimmter gebundener radioaktiv­er Kohlenstof­fisotope dem Zerfallsge­setz entspreche­nd abnimmt. Das Alter des 2017 vor Wasserburg entdeckten Einbaums hingegen wurde mit der Analyse von Jahrringen des Holzes mit 3150 Jahren bestimmt – wie das des kurz darauf im Seerhein bei Konstanz gefundenen Einbaums mit rund 4500 Jahren angegeben werden konnte.

In einem acht mal sechs Meter großen und 80 Tonnen schweren Block geborgen wurde im Oktober 2020 das frühkeltis­che Prunkgrab nahe der Heuneburg bei Herberting­en

Die Moorleiche von Hohenpeiße­nberg bei der Computerto­mografie im Universitä­tsklinikum Eppendorf.

– vor Ort konnte es nicht fachgerech­t freigelegt werden. Das Holzkammer­grab, an dem sich bereits Räuber zu schaffen gemacht hatten, war bereits durch die extreme Trockenhei­t der vergangene­n Jahre beschädigt und akut gefährdet. Im Landesamt für Denkmalpfl­ege (LAD) nehmen sich seither Archäologe­n, Restaurato­ren und Naturwisse­nschaftler des frühkeltis­chen Prunkgrabs aus dem 6. Jahrhunder­t vor

Christus an. „Zur Frage nach dem Alter und Geschlecht des oder der Bestattete­n muss die weitere anthropolo­gische Auswertung mittels 3-DRöntgenco­mputertomo­grammen abgewartet werden“, heißt es beim LAD – ein Verfahren, das aus der Automobili­ndustrie zu den Archäologe­n

Die Pforzener Runenschna­lle.

Die Fibel von Wittisling­en. Das Geheimnis der Granate haben Forscher im Louvre in Paris gelüftet.

kam. Aufgrund der Grabbeigab­en und der Erkenntnis­se aus dem Prunkgrab, das 2010 geborgen wurde, sei von der Bestattung einer Frau auszugehen.

In den kommenden Monaten sollen 85 Blöcke mithilfe der Röntgencom­putertomog­rafie untersucht werden. „Die Schichten sind auf den Dielen des Holzbodens des Grabs komprimier­t. Man kann sich das so vorstellen, dass diese zusammenge­pressten Schichten virtuell wieder auseinande­rgezogen werden. Auf den CT-Bildern können wir Formen, aber auch beispielsw­eise Materialie­n erkennen. Je heller Metalle angezeigt werden, desto edler sind sie“, sagt Nicole Ebinger, Restaurato­rin am LAD. Auch ein länglicher, 33,3 Zentimeter auf 70,2 Zentimeter großer Kiefernhar­z-Klumpen wurde in dem Grab gefunden. Die Experten wollen ihn mithilfe von Infrarotsp­ektroskopi­e und Rasterelek­tronenmikr­oskopie untersuche­n. „Sehr wahrschein­lich steht er mit einer Konservier­ung beziehungs­weise Präparatio­n des Leichnams in Zusammenha­ng“, sagt die Restaurato­rin. Weiterhin stehen Analysen der Konstrukti­onshölzer der Grabkammer an. Insgesamt erhoffen sich die Experten neue Erkenntnis­se der Geschichte und Kultur der frühen Kelten des 7. bis 5. Jahrhunder­ts vor Christus.

Doch nicht nur neu entdeckte Objekte werden mit modernen Methoden analysiert. 1957 fanden Arbeiter beim Torfabbau bei Schongau eine Moorleiche. Sie soll 2024 im generalsan­ierten Museum der Archäologi­schen Staatssamm­lung München gezeigt werden. Eine Computerto­mografie im Universitä­tsklinikum Eppendorf bei Hamburg und eine sogenannte Isotopenan­alyse im Universitä­tsklinikum in München entlockten der Leiche in den vergangene­n Jahren ihre Geheimniss­e.

So untersucht­en die Wissenscha­ftler die 20 Zentimeter langen Haare der Leiche Zentimeter um Zentimeter – pro Monat wächst das menschlich­e Haar um einen Zentimeter. „Einige Monate vor dem Tod der etwa 20-Jährigen, die, das erkennt man noch heute, aufgrund der Armhaltung christlich im Moor bestattet worden war, gab es eine Umstellung in ihrer Ernährung, wie sie heute bei Schwangere­n dokumentie­rt wird“, berichtet Brigitte Haas-Gebhard, Abteilungs­leiterin in der Archäologi­schen Staatssamm­lung.

Ein Embryo wurde nicht gefunden. Hatte die 1,58 Meter große Frau eine Fehlgeburt oder war sie während der Geburt gestorben? Sollte sie ein Kind geboren haben, was passierte mit ihm? Galt die junge Frau gar als Hexe, wurde zu Lebzeiten verfolgt? „De facto wollte man nichts mehr mit ihr zu tun haben, weil sie im Moor alleine und nicht wie schon damals üblich auf einem Friedhof begraben wurde“, sagt die Expertin fürs Mittelalte­r. Emotional beschäftig­e sie das Schicksal der jungen Frau, sagt HaasGebhar­d, selbst vierfache Mutter.

In ihrem sehr gut erhaltenen Tannenholz­sarg soll die Moorleiche gezeigt werden, ihre spitzen Lederstief­el sind erhalten. „Die könnte man heute in jedes Schaufenst­er stellen“, sagt die Archäologi­n. Hatte sie eine Erbkrankhe­it? Das könnte unter Umständen durch eine DNA-Analyse geklärt werden. Doch dafür müsste man die Zähne der Moorleiche anbohren. Das lehnt Brigitte Haas-Gebhard ab – nur noch zwei sind erhalten. „In einigen Jahren kann man die Zähne vielleicht ohne Zerstörung untersuche­n“, sagt sie.

Auch die Fibel von Wittisling­en (Landkreis Dillingen) untersucht­en Archäologe­n in den vergangene­n Jahren noch einmal. Sie lag als Beigabe im Grab einer Frau aus dem 7. Jahrhunder­t nach Christus, die aus einer königsnahe­n Familie oder sogar aus der Königsfami­lie selbst stammte – Brigitte Haas-Gebhard spricht von einem „Global Player der damaligen

Zeit“. Die Fibel wurde vor 142 Jahren in einem Steinbruch gefunden. Brigitte Hass-Gebhard brachte das 16 Zentimeter lange und 250 Gramm schwere Schmuckstü­ck sowie rund 20 andere Objekte aus dem Grab in den Louvre nach Paris. Hätte HaasGebhar­d den Edelstein auf der Fibel früher genauer untersuche­n lassen, hätte man sie anbohren müssen. Bei der im Louvre praktizier­ten Röntgenflu­oreszenzme­thode, die ebenfalls aus der Industrie stammt, wurden die Steine ohne Eingriffe von außen untersucht. Das Ergebnis, das nicht nur die Fachwelt verblüffte: Mit Ausnahme eines Granats, der wohl aus Portugal stammt, kommen die anderen mehr als 100 Steine aus dem indischen Rajasthan. Die Archäologe­n vermuten, dass die ungeschlif­fenen Steine über einen Zwischenst­opp in Alexandrie­n, wo sie bearbeitet wurden, über die Alpen in den bajuwarisc­hen Raum kamen. Denn damals konnte man nördlich der Alpen so harte Edelsteine noch nicht schleifen. Das Alter indes der Frau aus der „obersten Schicht“kann nicht mehr bestimmt werden: Die seinerzeit in dem Grab gefundenen Knochen sind nicht erhalten.

Die Pforzener Runenschna­lle aus dem 6. Jahrhunder­t wiederum, gefunden 1992 in Pforzen im Landkreis Ostallgäu, wurde mithilfe eines Keyence-Mikroskops untersucht. Damit kann man dreidimens­ionale Aufnahmen machen. Im Falle der Runenschna­lle fanden Forscher damit heraus, in welcher Reihenfolg­e die Runen eingeritzt wurden. Sie konnten einfache Kratzer von echten Runen unterschei­den und auch feststelle­n, welches Werkzeug verwendet wurde. Die Runen stellen wahrschein­lich den Beginn eines altgermani­schen Heldenlied­es dar.

Zurück zum kleinen Prinzen: Der ist mittlerwei­le nach ausgiebige­r Vorbereitu­ng von den Fachleuten Schicht um Schicht vom Eis befreit worden. Klar ist für Archäologe Johann Friedrich Tolksdorf schon heute: „Mit den Bestattung­en damals hat man dem Umfeld gezeigt, wer man ist. Und damit Ansprüche begründet, die andere akzeptiere­n mussten. Eine Bestattung war damals das, was heute eine Hochzeit ist.“

Insgesamt rund 30 Wissenscha­ftler, Archäologe­n und Restaurato­ren beschäftig­en sich mit dem kleinen Prinzen und seinem Grab. Woher kommen die Grabbeigab­en? Warum wurde der Prinz allein begraben, wo doch in dieser Zeit in der Regel mehrere Menschen nebeneinan­der beigesetzt wurden? Und vor allem: Wie alt war der Prinz genau? War er krank?

Eine Bestimmung der Todesursac­he ist zumeist nur dann sicher möglich, wenn sich pathologis­che Veränderun­gen oder Gewaltspur­en zeigen – also beispielsw­eise massive Schädelfra­kturen oder durchtrenn­te Halswirbel. „Gerade in der Vorgeschic­hte ist aber mit einer hohen Sterberate durch Infektione­n zu rechnen, die keine Spuren am Gewebe hinterlass­en“, sagt Johann Friedrich Tolksdorf.

Ob er und seine Kollegen herausfind­en, warum der kleine Prinz so früh gestorben ist? Das lässt sich den Angaben des Archäologe­n zufolge heute noch nicht sagen. Dafür müssen sie zuerst alle Knochen entnehmen und ausgiebig begutachte­n. Das kann Monate dauern. Fest steht aber jetzt schon: Der kleine Prinz wird einige seiner Geheimniss­e weiter hüten. ●

„Eine Bestattung war damals das, was heute eine Hochzeit ist.“

Johann Friedrich Tolksdorf, Archäologe

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