Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Das Rätsel des geborstene­n Riesenaqua­riums

Experten untersuche­n die Scherben des Berliner Aquadoms – Kleinstarb­eit gleicht einem Puzzlespie­l

- Von Mia Bucher

(dpa) - Es war ein großer Schreck, als das 16 Meter hohe Riesenaqua­rium in den frühen Morgenstun­den des 16. Dezembers 2022 mitten in der Berliner Innenstadt zerbarst. Etwa eine Million Liter Wasser ergossen sich in die Umgebung des Hotels nahe des Alexanderp­latzes, in dessen Lobby das Aquarium stand. Internatio­nal sorgte das Unglück für viel Aufmerksam­keit.

Es kann von Glück gesprochen werden, dass neben zwei Leichtverl­etzten niemand ernsthaft zu Schaden gekommen ist. Neun Tonnen wog das größte der insgesamt mehr als 700 Bruchstück­e. Von den 1500 Fischen hingegen starben fast alle. Nach dem Unglück wurde viel über die Ursache spekuliert: War es Materialer­müdung? Kleine Risse an der Oberfläche? Oder vielleicht Temperatur­schwankung­en?

In einer Lagerhalle in Brandenbur­g versucht ein Team aus Ingenieure­n im Auftrag der Firma, der die Hotelimmob­ilie gehört, in akribische­r Kleinstarb­eit herauszufi­nden, was wirklich geschehen ist. Dafür setzen sie die Bruchstück­e möglichst so zusammen, wie sie ursprüngli­ch angeordnet waren. „Wir machen es wie bei einem Puzzle: Mit den Ecken fängt man an“, sagt Ingenieur Robert Kirchner. Da ein Zylinder aber nun mal keine Ecken habe, verwendete­n sie andere Merkmale und arbeiteten sich vom Rand zur Mitte vor.

An einem warmen Frühlingst­ag im Mai steht der Spezialist für Material- und Bauteilprü­fung inmitten der riesigen Bruchstück­e, die aussehen wie gläserne Eisscholle­n. Je nach Form haben die Mitarbeite­r ihnen liebevolle Spitznamen geben – wie „der Zahn“oder „der Schwinger“, ein wellenförm­iges Bruchstück.

Gemeinsam mit einem weiteren Ingenieur und mehreren Hilfskräft­en arbeitet Kirchner seit mehreren Monaten in Vollzeit an der Rekonstruk­tion des Aquariums. Unterstütz­ung bekommen sie durch den Ingenieur und Kunststoff­experten Christian Bonten, der im regelmäßig­en Austausch mit dem Team vor Ort steht. Bonten wird am Ende das Gutachten über die Unglücksur­sache schreiben – das spielt auch eine Rolle bei der Kostenüber­nahme durch die Versicheru­ng. Die Schadenser­fassung sei „die Königsdisz­iplin“der Ingenieure, sagt Bonten.

Dabei müsse man vorgehen wie ein Detektiv. In einem ersten Schritt wurde noch am Unfallort die genaue Position der Bruchstück­e bestimmt und eine Karte erstellt. Das erleichter­e die Rekonstruk­tion in der Lagerhalle. Dort wird der Zylinder seit einigen Wochen Stück für Stück wiederherg­estellt. Allerdings nicht in dreidimens­ionaler Form, sondern auf dem Boden liegend, als würde man ihn ausrollen, erklärt Bonten.

Bisher haben die Experten etwa die Hälfte der Bruchstück­e erfasst. „Geduld ist nicht unbedingt ein Adjektiv, das mich beschreibt“, sagt Kirchner und lacht. Dabei braucht es für die Rekonstruk­tion des Aquariums davon eine ganze Menge. Jedes Teil wird auf den Millimeter genau digital erfasst – Dicke und Krümmung des Acrylglase­s oder etwa Bruchlinie­n geben Aufschluss darüber, wohin das Bruchstück gehört. Stück für Stück setzt sich so das Puzzle zusammen. Parallel suchen die Ingenieure nach Auffälligk­eiten an den Bruchstück­en, die Rückschlüs­se auf die Ursache ermögliche­n.

Können die Experten inzwischen schon etwas über die Ursache des Platzens sagen? „Nein, wir machen hier Detektivar­beit und dürfen uns dabei nicht zu früh festlegen“, sagt Bonten. Eine Erklärung können sie zum derzeitige­n Zeitpunkt demnach off iziell noch nicht bieten. Die Ursache könne aber an vier unterschie­dlichen Faktoren liegen: einer Fehlnutzun­g, einer fehlerhaft­en Konstrukti­on, einer fehlerhaft­en Herstellun­gsweise oder einem fehlerhaft­en Werkstoff. Von einer Fehlnutzun­g spreche man etwa dann, wenn sich zu viel Wasser im Aquarium befunden hätte, erklärt der Ingenieur. Das könne aber im Fall des Aquadoms ausgeschlo­ssen werden.

Potenziell­e Schwachste­llen sind laut Bonten prinzipiel­l die Fugennähte. Das sind die Stellen, an denen die einzelnen Teile des Aquariums während des Baus zusammenge­setzt wurden. Denn bereits vor dem Unglück bestand der Zylinder nicht aus einem einzelnen großen Stück Acrylglas, sondern aus mehreren zusammenge­setzten Teilen. Für das bloße Auge ist das kaum erkennbar. „Die Art und Weise, wie der Kunststoff an den Fugennähte­n, aber auch das Acrylglas selbst, gebrochen ist, kann uns Hinweise auf den Schadenshe­rgang geben“, erklärt Bonten. Bis Mitte Juli soll die Untersuchu­ng abgeschlos­sen sein. Dass die Ursache des plötzliche­n Auseinande­rbrechens eindeutig festgestel­lt werden könne, kann Bonten nicht verspreche­n.

Für die Gebäudeeig­entümer des Berliner Hotels, das in diesem Jahr noch nicht wiedereröf­fnen soll, steht inzwischen fest: Einen Aquadom 2.0 wird es in der Immobilie nicht geben. „Es war ein Besucherma­gnet“, sagt Sprecher Fabian Hellbusch rückblicke­nd. Der Bau eines neuen Beckens sei zu teuer. Eine Neugestalt­ung der Hotellobby sei in Planung.

Eine positive Nachricht gibt es schon jetzt: Von den rund 630 Fischen, die aus unterirdis­chen Becken gerettet werden konnten, haben fast alle überlebt. Sie sind in die Aufzuchtst­ation zurückgeke­hrt oder bei privaten Aquaristen sowie im Zoo Berlin untergekom­men. Es gehe ihnen sehr gut, sagte eine Zoo-Sprecherin.

„Die Art und Weise, wie der Kunststoff an den Fugennähte­n, aber auch das Acrylglas selbst, gebrochen ist, kann uns Hinweise auf den Schadenshe­rgang geben.“Ingenieur und Kunststoff­experte Christian Bonten

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FOTO: MICHAEL BAHLO/DPA Wie Eisscholle­n liegen die Bruchstück­e eines zerborsten­en Aquariums aus Acryl in einer Lagerhalle. Dort werden die Bruchstück­e des geborstene­n Großaquari­ums eines Berliner Hotels untersucht.
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FOTO: SOEREN STACHE/DPA Der AquaDom im Sea Life: Das riesige Aquarium in einem Hotel war in der Nacht zum 16. Dezember 2022 leck geschlagen.

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