Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Letzter Ausweg Babyklappe
Die anonyme Abgabe eines Neugeborenen ist umstritten und streng genommen auch illegal. Trotzdem wählen immer wieder Mütter diesen Weg. Im Südwesten zuletzt gleich mehrfach.
Villingen-Schwenningen, ein Freitag im April. Obwohl von Natur aus eigentlich untrennbar miteinander verbunden, verlieren sich an diesem Nachmittag zwei Lebensläufe, womöglich für immer. Die Babyklappe am Altenzentrum Franziskusheim liegt an einer viel befahrenen Durchgangsstraße, noch am helllichten Tag schrillt plötzlich die Alarmklingel im Wohnbereich der diensthabenden Pflegekraft. Das bedeutet: Die Klappe wurde von außen geöffnet. Über eine Kamera erkennt die Pflegerin sofort, dass tatsächlich ein Neugeborenes in dem Wärmebettchen liegt. Rasch eilt sie zu dem Bündel, zeitgleich werden Rotes Kreuz und Notarzt gerufen, die das Findelkind, ein Mädchen, auf seine Lebensfunktionen untersuchen. Zwei Tage später und nach medizinischer Beobachtung im Schwarzwald-Baar-Klinikum kommt es schließlich zu einer Pf legefamilie.
„Dem Kind geht es gut“, versichert Joachim Spitz, Vorsitzender der ProKids-Stiftung und Initiator der Babyklappe. „Die Mutter muss verzweifelt gewesen sein, sie hat wohl keinen anderen Ausweg gesehen“, ist Spitz überzeugt. Von der Frau fehlt jede Spur, auch die Polizei leitet in solchen Fällen, sofern das Kind lebendig, gesund und ohne Anzeichen von Missbrauch ist, keine Fahndung ein. So wurde es abgesprochen, eine rechtliche Grauzone, denn Babyklappen und die anonyme Abgabe eines Kindes sind illegal, werden vom Staat aber geduldet. Und von Müttern seit ihrer Einführung vor rund 20 Jahren immer wieder genutzt.
Allein im Südwesten in den vergangenen Wochen gleich dreimal, neben Villingen-Schwenningen (nun zum insgesamt sechsten Mal) wurden zuletzt auch in Singen
und Karlsruhe Säuglinge abgelegt. Babyklappen gibt es außerdem in Mannheim, Pforzheim, Lörrach, Friedrichshafen (vier Findelkinder seit 2012) und Stuttgart (46) sowie an zehn Orten in Bayern. Nach der anonymen Abgabe hat die Mutter acht Wochen Zeit, sich doch noch für ihr Kind zu entscheiden, was in Einzelfällen auch vorkommt. Danach wird es zur Adoption freigegeben. Und erfährt vermutlich nie von seiner leiblichen Mutter oder dem Vater.
„Es erhält aber die Chance auf ein gutes Leben“, sagt Joachim Spitz, der betont: „Die Adoptivfamilien, zu denen ich Kontakt habe, da entwickeln sich die Kinder toll.“Auf die Idee einer Babyklappe kam der 53-Jährige, während er und seine Partnerin schwere Zeiten durchmachten. Damals hatte seine Frau bereits drei Fehlgeburten erlitten, als er in der Zeitung von einem toten Kind las, das jemand in einer Plastiktüte vor einer Waldhütte bei Singen abgelegt hatte. „Da dachte ich: Die einen wünschen sich sehnlichst Kinder – und andere werfen sie weg.“
Solche Dramen bewegen immer wieder die Öffentlichkeit, wie auch bei einer Frau im Kreis Konstanz, die ihre Schwangerschaft vor Kindsvater und Familie geheim hielt, schließlich das Kind allein zur Welt brachte und es danach erstickte. Vor Gericht gab die Mutter an, sie habe das Neugeborene eigentlich zu einer Babyklappe bringen wollen. Wie schwer dieser Schritt fallen kann, zeigt eine andere Tragödie, als eine Mutter ihr Neugeborenes zunächst im Kleiderschrank verwahrte und es am nächsten Morgen statt in vor die Babyklappe eines Frauenhauses legte, sodass kein Alarm ausgelöst wurde. Als der Säugling dort später aufgefunden wurde, war er schon tot. Womit einmal mehr zur Diskussion
steht, ob Babyklappen überhaupt ihren gedachten Zweck erfüllen.
„Diese Frage muss man stellen“, sagt auch Sigrid Zwergal von der Adoptionsberatung und -vermittlung der Caritas RottenburgStuttgart. „Ist dieses Angebot wirklich für Frauen, die in ihrer Situation nicht mehr klar denken können und die im Tunnel sind, die sich überfordert fühlen, spontan ein Kind zur Welt zu bringen? Sind die dann noch in der Lage, zu recherchieren, wo die nächste Babyklappe ist?“
Kritiker verneinen dies, laut einer Studie des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen geraten Frauen, die später ihr Kind töten oder aussetzen, in Panik, erleiden Kontrollverlust und stürzen in eine seelische Verfassung, die rationales Verhalten schwer bis unmöglich macht. Oft in Furcht davor, dass Partner und Familie das Kind nicht wollen, verheimlichen und verdrängen sie schon ihre Schwangerschaft. Die Adoptionsforscherin und Kriminologin Christine Swientek spricht von einer „durchgehenden Passivität“und einer „stupiden
Abwehrhaltung“. „Sie harren so lange aus, sie wissen genau, meine Bauchschmerzen sind Wehen, und sie lassen es einfach geschehen.“Ohne Fluchtpunkt und Ausweg, ohne Raum für das Leben eines Neugeborenen.
Zu den Kritikern der Babyklappe zählt auch der Deutsche Ethikrat, der bemängelte, dass die Mutter bei der anonymen Abgabe – genauso wie bei der Möglichkeit der anonymen Geburt – gegen das im Grundgesetz zugesicherte Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft verstößt. Ein schwerwiegendes Argument, findet auch Caritas-Expertin Zwergal: „Für die meisten Menschen ist es wichtig, zu wissen, woher sie kommen“, sagt die Sozialpädagogin. „Wer ihre leiblichen Eltern sind, ob es Ähnlichkeiten gibt, wie es ihnen geht. Und wie damals ihre Lebenssituation war.“Fragen, die Findelkinder manchmal schon in jungen Jahren umtreiben, die sich andere wiederum in Zeiten des persönlichen Umbruchs stellen, oder auch erst im Alter, im Rückblick auf die eigene Biografie. „Adoption ist ein Lebensthema.“
Der Ethikrat forderte daher die Abschaffung der Babyklappe und empfahl eine nach dem Grundgesetz legale Lösung. Worauf der Bundestag 2014 die Möglichkeit der vertraulichen Geburt schuf.
Dabei sucht die Frau eine Schwangerschaftsberatungsstelle auf, übergibt einer Betreuerin ihre persönlichen Daten und erhält im Gegenzug ein Pseudonym. Die Betreuerin bleibt die einzige Person mit Kenntnis ihrer wahren Identität, von der auch Klinik, Krankenwagenfahrer, Hebammen und Adoptionsstelle nichts erfahren. Mit den Daten erstellt sie aber einen Herkunftsnachweis, der beim Bundesamt für Familie verwahrt wird. Erreicht das Kind sein 16. Lebensjahr, kann es Einsicht in den Nachweis beantragen.
Die vertrauliche Geburt ermöglicht gleichzeitig der Mutter eine geschützte Schwangerschaftsberatung und eine medizinische Versorgung für sich und ihr Kind, auch wenn sie es nach der Geburt nicht behalten möchte. Seit Einführung haben sich rund 1000 Frauen für diesen Weg entschieden, eine legale Alternative zu Babyklappe und anonymer Geburt – die es entgegen der Empfehlung des Ethikrates aber weiterhin gibt. Warum das Bundesfamilienministerium an den illegalen Formen festhält, erklärt eine Sprecherin so. „Es gibt nach wie vor Frauen, die die vertrauliche Geburt nicht kennen oder sich nach eingehender Beratung bei einer Schwangerschaftsberatungsstelle trotzdem für eine Babyklappe entscheiden. Zum Schutz ihres Kindes ist das Angebot an Babyklappen deshalb weiterhin für verzweifelte Frauen von Bedeutung.“
Tatsächlich gibt es Hinweise, dass die vertrauliche Geburt manchen Müttern in angespannter Lage zu bürokratisch erscheint, sie
sich überfordert und außerstande fühlen, Hilfe zu organisieren und sich anderen anzuvertrauen. Die jeweiligen Lebenslagen können komplex sein, die inneren Prozesse diffus und viele Gründe den Ausschlag geben, weshalb einer Frau in Not genau die Babyklappe als letzter Ausweg erscheint. Bei allen Zweifeln, die bleiben, sagt daher auch Sigrid Zwergal: „Ich glaube schon, dass mangels Alternativen die Babyklappe im einen oder anderen Fall Leben gerettet hat.“
Dieser Überzeugung ist auch Joachim Spitz, der das Konzept verteidigt: „Das Grundgesetz sichert das Recht auf Kenntnis der eigenen Herkunft zu. Es gibt aber auch ein Recht auf Leben – und das steht für mich höher.“Eine Notwendigkeit, Babyklappe und anonyme Geburt auf eine legale Grundlage zu stellen, sieht er deshalb aber nicht. „Die Duldung reicht aus meiner Sicht völlig aus. Wir wollen ja nicht dazu motivieren, Kinder zu zeugen, um sie dann abzugeben“, erklärt Spitz, der einst die Hoffnung auf eigenes Familienglück schon aufgeben wollte.
Nach den Fehlgeburten ließ er sich drei Sterne tätowieren, je einen für jedes Sternenkind. Seine Frau bekam dann aber doch noch einen gesunden Sohn, heute ein begeisterter Eishockeyspieler. Für den Unternehmer, der für sein Engagement für benachteiligte Kinder mit der Staufermedaille ausgezeichnet wurde, die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches. Und auch die eines einzigartigen Lebensgefühls, dieser Mischung aus Bindung, Bangen, Zuneigung und Verantwortung, wie sie nur Eltern kennen. Wie es der Mutter des jüngsten Findelkindes aus der Babyklappe geht, liegt hingegen im Ungewissen, noch bleibt ihr Zeit, sich zu melden, böse wäre darüber gewiss niemand.