Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

In der Zermürbung­sschlacht um Bachmut

Deutscher Freiwillig­er berichtet von seinem Einsatz an der ukrainisch­en Front – Wagner-Chef verkündete die Einnahme der Stadt

- Von Dmytro Durnjew

- Er habe sich jedes Mal wie ein Astronaut gefühlt, der auf den Countdown warte. „Vorher überlegen alle gründlich, was sie unbedingt mitnehmen müssen. Der Rucksack darf ja nicht zu schwer sein. Weil wir laufen müssen, unter MG- und Granatbesc­huss.“Für Schweiger und seine zehn Kameraden war schon der 500-MeterLauf bis zu dem Haus, das sie für die nächsten 24-Stunden zu verteidige­n hatten, wie ein Sturmangri­ff unter feindliche­m Beschuss.

Schweiger (Name von der Redaktion geändert) lächelt, 74 Kilo habe er vor Bachmut gewogen, 67 Kilo hinterher, obwohl er dort angefangen habe, Süßigkeite­n zu essen, auch im Gefecht, Adrenalin verbrenne alle Kalorien. Er sitzt in der leeren Kantine seiner Einheit 200 Kilometer von Kiew entfernt und redet weiter, er redet sich 53 Tage Bachmut von der Seele.

Schweiger, 25, ist Freiwillig­er einer Kompanie der ukrainisch­en Territoria­lverteidig­ung, die in Bachmut hohe Verluste erlitt. In der Donbass-Stadt toben seit neun Monaten Straßenkäm­pfe, die Militärexp­erten mit der Schlacht um Stalingrad vergleiche­n. Am Samstag verkündete Jewgenij Prigoschin, Chef der russischen Wagner-Söldner, die völlige Einnahme der zertrümmer­ten Stadt. Der ukrainisch­e Staatschef Wolodymyr Selenskyj sagte am Sonntag: „Heute ist Bachmut nur in unseren Herzen.“Ein Sprecher Selenskyjs wies darauf jedoch zurück, dass der ukrainisch­e Präsident den Verlust der Stadt eingeräumt habe.

Schweiger ist auch sein Codename, kein Zufall, er ist Deutscher, genauer Russlandde­utscher aus Köln, er redet gerne, sein fröhlicher Blick bringt die Leute unwillkürl­ich zum Lächeln. Zuhause hat er als Tätowierer gearbeitet, „das habe ich mir auf YouTube selbst beigebrach­t“. Zum Üben tätowierte er den halben Körper, auf seiner Schläfe prangt auf englisch der Spruch „Jung sterben“. Warum er in der

Ukraine ist? Schweiger sagt, er habe einen ukrainisch­en Großvater gehabt. Er sei kein Nationalis­t oder Rassist, er sei tolerant. Aber wer gebe den Russen das Recht, ihre Nachbarn anzugreife­n?

Acht Wochen Infanterie­ausbildung, nur einmal Schießplat­z – dann kam er nach Bachmut und traf auf einen Feind, der sein Kriegshand­werk versteht und besser bewaffnet ist. Aber Schweiger redet lieber von Adrenalin als von Angst. Nachts entdeckte er durchs Thermofern­glas in 50 Metern Entfernung Russen, die sich zum Angriff sammeln, und schoss einen nieder. „Gefühlt habe ich nichts, höchstens, dass ich etwas Nützliches getan habe.“Krieg, merkte er, ist eine blutige

Angelegenh­eit. Aber er hatte bislang Glück.

Nach der Abwehr eines vierstündi­gen Sturmangri­ffs ruhten er und seine Kameraden sich aus. „Wir saßen auf dem Boden, ich in der Mitte, noch betäubt von der Schießerei. Ich wollte aufstehen, in dem Moment f log eine Granate in den Raum, riss die Tür aus den Angeln. Ich betastete mich, war heil geblieben.“Aber die Kameraden lagen in ihrem Blut, einen hatte es am Arm, den anderen am Bein erwischt, beide keinen Meter entfernt. „Bachmut hat mich gelehrt, wie wichtig Glück im Krieg ist.“Sein Kompaniech­ef, der anonym bleiben möchte, zieht andere Lehren: „Die Russen berennen deine Position, opfern

Leute zu Hunderten, um jedes MG-Nest, jede Feuerstell­ung im Gebäude zu orten. Und dann schlägt ihre Artillerie zu, Munition haben sie ja genug.“

Schweiger und seine Kameraden filmten die Silhouette­n der Feinde in den Fenstern gegenüber, ebenso die großen Flammenzun­gen, die nachts leuchtend vom Himmel glitten – russische Phosphorbo­mben, die über der Stadt explodiert­en. Die Russen, Söldner der gefürchtet­en Wagner-Truppe, spielten überlaut das Lied „Blutgruppe“des sowjetisch­en Rockmusike­rs Viktor Zoj, eigentlich ein Antikriegs­lied. Laut Schweiger waren diese Söldner erfahrene Kämpfer. Im Treppenhau­s versuchten sie wie

beim Billard Kugeln über Stahlbeton­wände als Bande ins Zimmer zu schießen.

Häuserkamp­f in Plattenbau­ten: Durchs Vorderfens­ter schießt der Feind, durchs Hinterfens­ter sieht man Zivilisten mit angeknacks­ter Psyche ihre Hunde ausführen. Je länger die Schlacht dauert, desto mehr wird Bachmut zum Irrenhaus.

Am besten feuere man aus dem dunklen Korridor durch das Fenster, sagt Schweigers Kommandeur. „Wie viele Jungs haben wir verloren, weil sie sich zu weit vorgewagt haben, weil sie das Gefühl der Unsterblic­hkeit gepackt hat.“Andere blieben plötzlich sitzen, mit den Armen über dem Kopf, wie gelähmt… „Stupor, die musst du anbrüllen, das hilft meistens“, erklärt Schweiger.

Die Soldaten kämpften 24 Stunden in vorderster Front, danach konnten sie 48 Stunden in den Stellungen dahinter ausruhen. „Aber am Ende hatten wir keine Leute mehr“, sagt Schweiger. „Du bist gerade abgelöst worden, hast nicht mal geduscht und denkst: Wer, wenn nicht du, kann jetzt wieder rausgehen?“

Bachmut dürfte als Zermürbung­sschlacht mit Zehntausen­den Opfern aber ohne kriegsents­cheidende Wichtigkei­t in die Geschichte eingehen. Weniger Stalingrad als eine postmodern­e Kleinversi­on des unentschie­denen Blutbads von Verdun 1916. Schneiders Kommandeur aber hofft trotzdem auf einen Sinn. „Unsere Verluste sind nur dann gerechtfer­tigt, wenn wir irgendwo andere Einheiten formieren und trainieren, an Waffen, die wir hier nie gesehen haben, und mit denen die Russen zerschlage­n werden!“

Auch der Kommandeur will sich diese Schlacht von der Seele reden. Bachmut habe ihn und seine Leute verändert. „Viele sind keine Menschen mehr. Schweiger nicht, ich auch nicht. Nach Bachmut kann ich keine Tränen mehr über einen sentimenta­len Film vergießen.“Schweiger hat in Bachmut elf Feinde getötet, er ist auch bei der Bergung der Verletzten immer wieder vorausgega­ngen.

Aber Bachmut, der Tod enger Kameraden, reißt auch unsichtbar­e Wunden. Er verspüre jetzt Abneigung gegen die Menschen, sagt Schweiger. „Früher fand ich es interessan­t, neue Leute kennenzule­rnen. Aber wozu? Das Leben eines Menschen ist nicht mehr wert als eine Kalaschnik­ow-Kugel “. Im Traum sieht er jetzt seine Angehörige­n oft tot. Und die ukrainisch­e Hauptstadt Kiew mit seinen vergnügten Frühlingss­paziergäng­ern ertrage er nicht mehr. „Unter ihren Füßen sehe ich unsere toten Jungs liegen“, sagt auch sein Kommandeur.

 ?? FOTO: LIBKOS/DPA ?? Bachmut ist seit Monaten heftig umkämpft: Ukrainisch­e Soldaten feuern in der Nähe der Stadt eine Kanone auf russische Stellungen ab.
FOTO: LIBKOS/DPA Bachmut ist seit Monaten heftig umkämpft: Ukrainisch­e Soldaten feuern in der Nähe der Stadt eine Kanone auf russische Stellungen ab.

Newspapers in German

Newspapers from Germany