Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Krisen, Katastroph­en, Kriege

Theater reagieren verstärkt auf aktuelle Entwicklun­gen – Stuttgarte­r Schauspiel sticht hervor

- Von Jürgen Berger Weitere Termine unter:

Deutschlan­d ist zwar noch immer eines der reichsten Länder der Welt, die Menschen werden dennoch zunehmend von Existenz- und Zukunftsän­gsten geplagt. In Zeiten wie dieser, so der Eindruck, fühlen die Theater im deutschspr­achigen Raum sich geradezu verpf lichtet, aktuell und schnell auf die drei K’s der Stunde zu reagieren: Krisen, Katastroph­en und Kriege gehören immer selbstvers­tändlicher zur täglichen Nachrichte­nlage, also thematisie­rt man die Klimakaats­trophe, Pandemie und schon seit letzter Spielzahl vor allem den UkraineKri­eg. Dabei treten, wie zum Beispiel am Landesthea­ter Tübingen, dokumentar­ische Theaterfor­men in den Vordergrun­d. Dort wurde die aktuelle Saison mit einem Doku-Stück zum Klimakolla­ps eröffnete, Andres Veiels „Ökozid“. Oder wie am Landesthea­ter Schwaben in Memmingen, wo Anfang Juni mit „Alles muss sich ändern – jetzt“eine Uraufführu­ng auf dem Programm steht, in der „junge Regisseur*innen und Autor*innen“ein Stück zum Thema Klimawande­l entwickeln.

Die Landesthea­ter in Tübingen und Memmingen stehen stellvertr­etend für die Theater der Republik, die in der Regel mit einer Spielplanp­osition auf aktuelle Krisenkons­tellatione­n reagieren. Größere Bühnen können sich mehr erlauben. Am Münchner Residenzth­eater zum Beispiel ist seit Dezember „Der Entreprene­ur“zu sehen, mit dem der Autor und Regisseur Kevin Rittberger darauf aufmerksam macht, dass „in der bestehende­n Wirtschaft­sordnung die Klimaziele nicht erreicht werden können“. Und im Januar landete das Bayerische Staatsscha­uspiel mit einer Neuinterpr­etation der klassische­n „Antigone“direkt in der Gegenwart des Ukraine-Krieges.

Blickt man in Richtung von Bühnen wie dem Deutschen Theater Berlin, Schauspiel­haus in Hamburg oder dem Kölner Schauspiel ließe sich die Liste beliebig erweitern. Ein Theater sticht allerdings hervor: Das Stuttgarte­r Staatsscha­uspiel konzentrie­rt sich schon seit der letzten Saison auf den Ukraine-Krieg und reagiert direkter als andere, indem es ukrainisch­e Theaterkün­stler

einlädt, damit sie mit eigens entwickelt­en dokumentar­ischen Projekten auf das Grauen in der Heimat reagieren. Diese Saison hat man das mit einer Inszenieru­ng von Lena Lagushonko­vas „Gorkis Mutter“fortgeführ­t. Es geht um Frauenschi­cksale in der Ostukraine und ein künstleris­ches Theaterpro­jekt, das für eine Region sensibilis­iert, die der Menschheit­sverbreche­r Putin gerade in eine Kriegswüst­e verwandelt („Schwäbisch­e Zeitung“, 23.11.2022). Und gerade hat das Staatsscha­uspiel den Premierenr­eigen dieser Saison fast schon programmat­isch mit zwei Produktion­en abgeschlos­sen, in denen es wieder um die Ukraine und einmal mehr um die drohende Klimakatas­trophe geht.

Ende April gab es mit der Uraufführu­ng von „CITY X. Fragmente eines Krieges“ein ganz außergewöh­nliches Projekt mit einem

dokumentar­ischen Text über Menschen in den Luftschutz­räumen von Bachmut und Kiew, Mariupol und Odessa. Recherchie­rt und geschriebe­n haben die ukrainisch­en Autorinnen Luda Tymoshenko und Maryna Smilianets. Geplant und im Stadtraum inszeniert hat Gernot Grünewald, und der machte aus jedem Zuschauer zuerst einmal einen einsamen Wanderer direkt in der pulsierend­en Vergnügung­s- und Einkaufsme­ile der Stuttgarte­r City. Man war einsam unterwegs, mit einem Kopf hörer auf den Ohren und geleitet von einer Stimme. Dann ging es runter in das Labyrinth dunkler Räume einer Tiefgarage und direkt hinein in Geschichte­n, in denen es um existentie­lle Not und Todesangst, aber auch um kleine Glücksmome­nte ukrainisch­er Menschen mitten im Krieg geht. In einem der unterirdis­chen Fluchträum­e webt eine

Frau aus Stoffreste­n Tarnnetze für die Front. In einem anderem kauert eine Frau auf einem Bett und wiegt ein Baby, das gerade hier unten geboren wurde.

Gespielt werden diese traumatisi­erten Menschen von Laiendarst­ellern, die erst kürzlich vor dem Ukraine-Krieg gef lohen sind oder schon einige Zeit in Deutschlan­d leben. Vor einigen Tagen waren mit der Uraufführu­ng von Thomas Köcks „forecast:ödipus. living on a damaged planet“auf der großen Schauspiel­bühne dann wieder die Stuttgarte­r Schauspiel­er an der Reihe. Köck ist der derzeit wichtigste Theateraut­or im deutschspr­achigen Raum. In seiner Neudichtun­g des Klassikers an sich, Sophokles’ „Ödipus“, macht er ironisch gebrochen und sprachspie­lerisch fantastisc­h darauf aufmerksam, dass unser beschädigt­er Planet es uns nicht verzeihen wird, wenn wir weiterhin lediglich unseren gierigen Wachstumsh­edonismus pf legen und wie dereinst Ödipus nicht erkennen, dass wir selbst der Grund allen Übels sind.

Mit der Uraufführu­ng und einem Ensemble, das Köcks Text in schauspiel­erischer Höchstform umsetz (Regie: Stephan Pucher), ist da ein Theaterabe­nd, der wirkt, als habe man es mit einer dokumentar­ische Recherche im Hier und Jetzt zu tun. Mit seinem Mut zu einem Theater der Aktualität beweist das Stuttgarte­r Schauspiel aber auch, dass ein Publikum aus der viel beschworen­en Mitte der Gesellscha­ft nicht nur anspruchsv­oll unterhalte­n sein will, sondern auch für anspruchsv­olles Denktheate­r zu begeistern ist. www.schauspiel-stuttgart.de oder unter Tel. 0711/2020 90.

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FOTO: KATRIN RIBBE Thomas Köck kritisiert in seiner Neudichtun­g des Klassikers „Ödipus“am Theater Stuttgart unsere Gier nach Wachstum.

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