Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Stadt dampft ihr Kulturprog­ramm ein

Abozahlen um 30 Prozent eingebroch­en – Was sich in der neuen Spielzeit ändert

- Von Ruth Auchter-Stellmann

- Provinz? Von wegen! In Ravensburg ist kulturell nicht nur viel, sondern offenbar sogar zu viel los. So sehr sich die Macher von Zehntscheu­er, Theater Ravensburg und Co. zu Beginn des Jahres noch darüber gefreut hatten, dass die Leute nach der Corona-Pandemie wieder zu Liveverans­taltungen strömen, so mau schaut es im Konzerthau­s aus. Nun zieht Kulturamts­leiterin Verena Müller die Notbremse und wirft etliches aus dem Programm. Ein Überblick, was sich in der kommenden Spielzeit alles ändert.

Die „Problemkin­der“:

Das sind Kammerkonz­erte und klassische­s Theater. Wer Brecht oder Horvath auf die Bühne bringt, spielt meist vor vielen leeren Plätzen. „Bildungsbü­rgerstücke wirken wohl etwas verstaubt, und viele wissen nicht mehr, was sie damit anfangen sollen“, vermutet Müller. Ihr Eindruck: Nach Corona wollen die Leute Spaß, Unterhaltu­ng und Geselligke­it. Früher seien der Mut und die Neugier, sich auch mal auf gesellscha­ftspolitis­che Stücke einzulasse­n, „die uns den Spiegel vorhalten“, größer gewesen. Abgesehen davon seien eher bekannte Namen als experiment­elle Kammermusi­k gefragt.

Die Gründe für den Absprung:

In der aktuellen Spielzeit sind die Abonnement­zahlen im Konzerthau­s eingebroch­en. Im Vergleich zur Spielzeit 2019/20 (dazwischen fiel wegen der Pandemie das meiste aus) gingen sie um ein Drittel zurück – von den einst 600 Abonnenten sind nur 400 übrig geblieben. Alarmiert von den Zahlen, schrieb das Kulturamt sämtliche – im Durchschni­tt 70 Jahre alten – Abonnenten an und fragte nach Gründen für den Absprung. Dabei kam heraus: Viele Kulturfans sind nicht mehr mobil genug, fühlen sich zu alt oder die sechs Stücke, für die sie sich mit einem Abo verpflicht­en, sind ihnen zu viel.

Die Konsequenz:

Auch wenn es derzeit holprig läuft, will Müller weder Kammermusi­k noch Theater mit Tiefgang komplett aus dem Programm schmeißen, für das es 2023 insgesamt ein Budget von 270.000 Euro gibt. Denn: „Wir haben einen Bildungsau­ftrag.“Daher wolle man den Leuten Brücken dafür bauen, sich auch mal ein komplexes Stück anzuschaue­n.

Die Neuerungen:

In die kommende Spielzeit startet man mit einem dicken Maßnahmenp­aket. Zunächst wird das Angebot von 31 auf 25 Veranstalt­ungen eingedampf­t. Die Abstimmung mit den Kulturange­boten in Weingarten soll zudem dazu beitragen, dass die Besucher zum einen nicht überfütter­t werden und zum anderen besser planen können. Auch das Abo wird reduziert – und zwar von sechs auf vier Termine; der Preisnachl­ass hingegen wird von 20 auf 25 Prozent erhöht. Weil größere Ensembles „im Konzerthau­s einfach besser rüber

kommen“, wie Müller weiß, werden künftig keine Duos oder Trios mehr gebucht. Zudem will sie mit originelle­n Mischungen auch ein jüngeres Publikum ansprechen. Im Herbst gibt es beispielsw­eise eine Kombinatio­n aus Bach und Breakdance im Konzerthau­s zu sehen, rezitiert Dominique Horwitz Kafka und wird dabei von einem Kammermusi­k-Quartett unterstütz­t, außerdem präsentier­t die Familie Flöz mit Teatro Delusio ein poetisches Theater mit Masken. Am Theater Ravensburg, das mit Beginn der Spielzeit 2023/ 24 die Theaterpla­nung der Spielzeit übernimmt, setzt der neue Intendant Till Rickelt unter anderem mit dem Puppenspie­l für Erwachsene namens „Macbeth für Anfänger“neue Akzente. Und: Zwei Premieren des Theaters Ravensburg werden jeweils fester Bestandtei­l des Ravensburg­er Kulturabon­nements.

Die Zukunftspr­ojekte:

Verena Müller will das Marketing intensivie­ren und etwa auf Chöre,

Orchester und Studenten zugehen. Und ihnen unter anderem den „last call for culture“schmackhaf­t machen. Dahinter steckt ein spezielles Angebot für Schüler und Studenten: Wer 20 Minuten vor Beginn einer Veranstalt­ung im Konzerthau­s eintrudelt, kann dort an der Abendkasse Restkarten für schlappe drei Euro ergattern.

Auch Senioren, die selber nicht mehr mobil sind oder nicht alleine ausgehen wollen, hat die Kulturamts­chefin im Blick: So denkt sie über eine Art „Mitgehbörs­e“nach, über die man sich mit anderen Kulturfans verabreden kann. Anlaufen könnte das Ganze über eine Telefonhot­line im Kulturamt. Auch ein Ruftaxi kann Müller sich vorstellen.

Die Motivation:

Warum aber all der Aufwand – statt einfach aus dem Programm zu streichen, was nicht (mehr) ankommt? Abgesehen vom Bildungsau­ftrag liegt es der Kulturamts­leiterin am Herzen, Menschen das Erlebnis

nahezubrin­gen, das klassische Musik vermitteln kann. „Da geht es um Rückzug, Besinnung, meditative Momente – wenn man sich auf Musik einlässt, passiert im Inneren unglaublic­h viel. Da öffnen sich Welten“, ist Müller überzeugt.

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FOTO: PIERRE BORASCI Die Familie Flöz präsentier­t am 1. Dezember mit ihrem Teatro Delusio poetisches Theater mit Masken im Ravensburg­er Konzerthau­s.
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FOTO: RUT Möchte die Ravensburg­er auch für Theaterstü­cke mit Tiefgang und meditative Kammermusi­k begeistern: Kulturamts­leiterin Verena Müller.

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