Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Denkmäler des Irrtums

Die Villa Rot in Burgrieden zeigt künstleris­che Positionen zum verlorenen Paradies

- Stefan Bollman: Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist. Von Antje Merke „Paradise Lost – Vertreibun­g aus dem Garten Eden“www.villa-rot.de

r ist der Herrgott der Kalendersp­rüche, unser Klassiker: Johann Wolfgang Goethe (1749-1832). „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, ach, das hebt das bürgerlich­e Selbstgefü­hl. Dabei wäre Goethe auch heute noch ein Bürgerschr­eck, ein Tabu-Brecher, ein frecher. Zwar reüssierte er als Darling des Establishm­ents am Weimarer Hof, aber angepasst hat er sich nie. In Stefan Bollmanns amüsantem Buch „Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist“lernen wir den Klassiker als ungestümen Freigeist kennen – der durchaus in die Gegenwart passt.

Statt mit dem Jurastudiu­m beschäftig­te sich Jungspund Goethe lieber mit Mode und Mädels, schrieb obszöne Stückchen und hinterließ wenig feine Sätze wie: „Ich bin wieder scheißig gestrandet.“Doch die Tristesse, zu der er neigte, besiegte ihn nie. 1774 hatte er seinen Liebeskumm­er in „Die Leiden des jungen Werthers“umgesetzt und einen Bestseller geschaffen, statt Selbstmord zu begehen. „Dem Leben eine poetische Gestalt geben“, das war sein Erfolgsrez­ept. Er mischte Erfahrung, pikante Fantasie und solide Bildung, um daraus Literatur zu machen. Wie sein Faust die Studierstu­be verlässt, um sich wieder zu spüren, so folgte Goethe der Eingebung. Nach einer Midlife-Krise, die man heute als Burnout bezeichnen würde, ging er auf die „Italienisc­he Reise“und genoss freien Sex in der Sehnsuchts­stadt Rom. Später heiratete er zum Entsetzen der Weimarer Society ein ordinäres Weibsbild, die sinnenfroh­e Christiane.

Bollmanns Text ist etwas sprunghaft und manchmal ausschweif­end, aber das passt durchaus zum Dichter. Und am Ende möchte der GoetheFan nicht mehr edel und gut sein, sondern einfach mehr wagen. DVA. 288 Seiten. 19,99 Euro.

- Es gibt wenige Kunsthäuse­r, die so konsequent gesellscha­ftlich relevante Themen aufgreifen, wie die Villa Rot in der Nähe von Laupheim. Nach Ausstellun­gen zu Fleischkon­sum und Selfie-Wahn widmet sich die neue Schau unter dem Titel „Paradise Lost“von diesem Sonntag an der latenten Bedrohung unserer Schöpfung. Ein Projekt, das einen Besuch wert ist.

Ilkka Halsos Blick auf unseren Planeten ist pessimisti­sch. In seinen Bildern rückt der finnische Fotokünstl­er noch intakte Biosphären in den Mittelpunk­t. Wie die frostempfi­ndliche Kamelie im Park von Pillnitz bei Dresden packt er ganze Flussläufe, Waldstücke, einzelne Bäume sowie mit Moos und Gras bewachsene Felsbrocke­n in gläserne Käfige oder Hochregall­ager und inszeniert sie als touristisc­he Sehenswürd­igkeit. Denn drumherum wächst schon lange nichts mehr. Die riesigen Farbfotogr­afien von bestechend­er Tiefenschä­rfe, die Halso digital bearbeitet hat, hängen im Neubau der Villa Rot – also dort, wo große Fensterflä­chen den Blick in den üppigen Park gewähren. Im Kontrast zur noch intakten Natur draußen vor der Tür wirken diese Visionen erst recht makaber und beängstige­nd.

Die Natur in Gefahr

„Paradise Lost“, der Alptraum vom verlorenen Paradies, zeigt sich in der Villa Rot auf ganz unterschie­dliche Weise. Beeindruck­end sind die Positionen aber allesamt. Sprich, Stefanie Dathe beweist mit ihrer neuen Ausstellun­g wieder ein gutes Gespür für starke künstleris­che Beiträge – diesmal zu Themenbere­ichen, die Gefährdung und Wandel, Schutz und Pflege der Schöpfung in den Fokus der Betrachtun­g stellen.

Wobei die Schau mit Werken aus Fotografie, Film, Objekt- und Installati­onskunst erstmals zweigeteil­t ist. Während im Erdgeschos­s Exponate versammelt sind, die mit naturwisse­nschaftlic­her Sorgfalt die Artenvielf­alt der Ökosysteme beobachten, finden sich im ersten Stock Arbeiten, die sich mit den Konsequenz­en der Zivilisati­on auf unsere Umwelt beschäftig­en. Anlass für das Ausstellun­gsprojekt sind die Nuklearkat­astrophe von Tschernoby­l vom 26. April 1986, die sich in diesem Jahr zum 30. Mal jährt, sowie das erst fünf Jahre zurücklieg­ende Unglück von Fukushima vom 11. März 2011.

Doch keine Bange, die Schau ist alles andere als deprimiere­nd. Die Exponate der 13 Künstler aus aller Welt wurden angenehm locker gruppiert und dramaturgi­sch geschickt in Szene gesetzt. Auf Formal-Ästhetisch­es folgt Bizarres, auf Naturwisse­nschaftlic­hes folgt Dramatisch­es. Und zwischendr­in gibt es mit optischen Irritation­en Überraschu­ngsmomente, die einen zum Schmunzeln bringen. Wie zum Beispiel die „Atomteller“des Berliner Duos Mia Grau und Andree Weissert, die im Treppenhau­s zu sehen sind. Die Schmucktel­ler zeigen 19 deutsche Atomkraftw­erke als Landschaft­sbild und knüpfen an die Windmühlen­motive in Delfter Blau an. Ihre prägnante Silhouette mit den qualmenden Kühltürmen prägen längst unser Heimatbild und stehen zugleich für eine Ära der Energiegew­innung, die sich dem Ende zuneigt. Auf der Rückseite sind die Koordinate­n zu Baujahr, Größe, Leistung und Störfällen des jeweiligen Motivs ins Porzellan gebrannt. Diese Teller, die für Idylle und Nostalgie stehen, sind folglich wie es im Untertitel treffend heißt: „Denkmäler des Irrtums – Hoffnung von Gestern – Folklore von morgen“.

Eindrücke aus Tschernoby­l

Was die Kernenergi­e anrichtet, wenn es zum GAU, zum größten anzunehmen­den Unfall kommt, zeigt dann beispielsw­eise Heiko Roith in seinen eindrucksv­ollen Aufnahmen, die auf vier Reisen in die Tschernoby­l-Region zwischen 2014 und 2015 entstanden sind. Einerseits hat der deutsche Fotograf jene alten Menschen porträtier­t, die wie „Baba Dunja“im gleichnami­gen Roman von Alina Bronsky aus Heimweh wieder in ihre verseuchte­n Dörfer zurückgeke­hrt und dort glücklich sind. Anderersei­ts hat er sich in Prypjat umgeschaut und mit der Kamera festhalten, was aus der einstigen Vorzeigest­adt der Ukraine geworden ist: ein totes Mahnmal von beklemmend­er Schönheit. Aus dieser Serie stammt auch das Plakatmoti­v mit dem rostigen Riesenrad im Park, das niemals in Betrieb ging.

Die russischen Künstler selbst wagen sich bis heute nicht an dieses Thema. Im Gegensatz dazu setzen sich ihre Kollegen in Japan mit den Folgen von Fukushima sehr wohl auseinande­r. Berührend ist hier der preisgekrö­nte Animations­film „Abita“von Shoko Hara und Paul Brenner. Er erzählt in Tuschtechn­ik von einem kleinen Mädchen, das wegen der radioaktiv­en Strahlung nicht mehr draußen spielen darf. Eine poetische Geschichte über süße Träume und bittere Realität. 36 000 Kinder sind in Japan davon betroffen.

in der Villa Rot bei Laupheim dauert bis 16. Oktober. Öffnungsze­iten: Mi.-Sa. 14-17 Uhr, So. 11-17 Uhr. Weitere Infos unter:

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FOTOS (2): MUSEUM Ilkka Halsos Blick auf unseren Planeten ist pessimisti­sch. In seinen Bildern packt er ganze Flussläufe oder Waldstücke in Käfige.
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Der „Atomteller“von Mia Grau und Andree Weissert.

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