Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Wie viel Gegenwart schafft es auf die Bühne?
Die neuen Stücke der Saison: Womit sich Dramatiker derzeit beschäftigen
- Gegen Ende jeder Theatersaison kommt die große Zeit der Autorinnen und Autoren: Autorentheatertage in Berlin, Heidelberg und Mülheim an der Ruhr. Was treibt die Theaterautorinnen und -autoren um? Beschäftigen sie sich mit unserer Gegenwart und finden sich in ihren Theaterstücken Spuren all der drängenden Gegenwartsprobleme: wachsende Armut, Bürgerkriege, Finanzspekulationen, populistische Radikalisierungen am rechten Rand wie die Dresdner Pegida und die Alternative für Deutschland (AfD)?
Was die Flüchtlinge erwartet
Sieht man sich die neuen Theatertexte an, fällt auf: Sie thematisieren nicht unbedingt das drängende Thema der Stunde und beschäftigen sich mit den Flüchtlingen, die in Richtung Mitteleuropa drängen. Das besorgen die Theater selbst mit Projekten. Die Theatertexte eint, dass die Autorinnen und Autoren sich damit beschäftigen, auf was Flüchtlinge hier in Deutschland treffen: ziellose Menschen, nervöse Atmosphären, Endzeitstimmungen.
Sie tun das nicht in privatistischen Minidramen. Alle schlagen einen größeren erzählerischen Bogen und nehmen die aktuelle Situation der Bundesrepublik in den Blick. Fritz Kater zum Beispiel, das Autoren-Ego von Armin Petras, dem Schauspiel-Intendanten am Staatstheater Stuttgart, nennt sein zum Mülheimer Autorenwettbewerb eingeladenes Stück „Buch (5 ingredientes de la vida)“. Mit seinen „5 Zutaten des Lebens“skizziert er anhand von Einzelbiografien die Entwicklung Deutschlands von Mitte der 1960erJahre bis heute. Er umkreist soziale Systeme wie die Familie, Wissenschafts-, Umwelt- und Kultureinrichtungen, die 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, nur noch utopieund mitleidlos vor sich hin funktionieren.
Kater verfolgt über den Zeitraum von fünfzig Jahren, was im neuesten Theaterstück der Romanautorin und „Spiegel“-Kolumnistin Sibylle Berg ins Zentrum eines nicht mehr funktionierenden Familienlebens führt. Im Fokus von Bergs neuestem Stück „Und dann kam Mirna“steht die alleinerziehende Mutter Mitte 30, deren Tochter weitaus lebenstüchtiger ist als die hysterische HelikopterMama. In Felicia Zellers „Zweite allgemeine Verunsicherung“geht es um eine nur mit sich selbst beschäftigte Karrierefrau – ohne Kind. Die gebürtige Stuttgarterin umkreist das Phänomen eines beruflich höchst erfolgreichen, aber alles andere als glücklichen Singlelebens. Die Frauen bei Berg und Zeller sind genauso vereinzelt und am Rande des Nervenzusammenbruchs wie die Automobilisten, die Ferdinand Schmalz ins Rennen schickt. Dem österreichischen Autor geht es um den Tempowahn auf den Straßen. Auch „Dosenfleisch“, so der ironische Titel seines Autobahnblues, ist keine soziologische Fallstudie, sondern eine Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft.
„Beben“, das beim Heidelberger Stückemarkt ausgezeichnete Drama von Maria Milisavljevic funktioniert wie das Fieberthermometer einer Welt, in der Gewaltszenarien überhandnehmen. Die Schlachtfelder all der Kriege, Bürgerkriege und von Terrororganisationen geknechteten Regionen liegen jenseits von Europa, verweisen aber auf ein Europa, das in seiner kulturellen und religiösen Selbstvergewisserung so kränkelt, dass es dem islamistischen Terror und der am rechten Rand schaumschlägernden AfD eine offene Flanke bietet.
Milisavljevic ist eine der jüngeren Autorinnen, deren Stücke heiß begehrt, aber nicht einfach zu inszenieren sind. Dasselbe gilt für Anne Lepper, die mit „Mädchen in Not“eine sich den Männern radikal verweigernde junge Frau ins Rennen schickt. Ganz ohne Gesellschaft geht es dann aber doch nicht. Der Ausweg wäre ein maschinelles Menschenwesen, eine Puppe, die funktioniert und keine dumme Fragen stellt.
Dass solch eine Variante der Sinnkrise des mitteleuropäischen Menschen komische Seiten haben kann, sah man gerade in der Uraufführung von „Mädchen in Not“am Mannheimer Nationaltheater und wird man wohl auch im Fall von Stephan Hornbachs „Über meine Leiche“sehen. Hornbach studierte zuletzt Schauspiel an der Ludwigsburger Akademie für darstellende Kunst BadenWürttemberg. Mit seiner ironischen Umkreisung eines zum Tode kranken jungen Mannes und einer todessehnsüchtigen jungen Frau ist er der Shootingstar der Saison.
Jan Assmann Roper
(77, Foto: kn), seit 2005 Honorarprofessor für Kulturwissenschaft und Religionstheorie an der Universität Konstanz, erhält den mit 20 000 Euro dotierten SigmundFreud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Assmann, der von 1976 bis 2003 Professor für Ägyptologie in Heidelberg war, wird für seine die Archäologie und die Gedächtnisgeschichte verbindenden Werke geehrt. Bekannt ist sein Werk „Monotheismus und die Sprache der Gewalt“(2006). Zu seinen neueren Veröffentlichungen gehören „Exodus. Die Revolution der Alten Welt“(2015), „Die Zauberflöte“(2015) und „Die Gott-Mythologien der Josephsromane“(2013). Die in Oxford lehrende Historikerin
(60, Foto: dpa) erhält den diesjährigen Gerda-HenkelPreis für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Geschichte der Frühen Neuzeit. Der Preis ist mit 100 000 Euro dotiert. Roper überzeuge gleichermaßen durch „theoretischen Scharfsinn, souveräne Beherrschung einer imponierenden Fülle von Quellen und eine geschliffene Sprache“, erklärte die Preisjury. Mit ihrer Arbeit zähle sie zu den prägenden Gestalten der Geschichtswissenschaft.
Lyndal