Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Der WM-Titel überwiegt alle negativen Erlebnisse“

Sportpsych­ologe Werner Mickler hält nichts vom Italien-Trauma und sieht vielmehr einen Anreiz für das DFB-Team

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- Heute (21 Uhr/ ARD) ist es soweit: Deutschlan­ds Fußball-Nationalma­nnschaft trifft im Viertelfin­ale der EM in Bordeaux auf ihren Angstgegne­r. Viele reden davon, dass die DFB-Elf ein ItalienTra­uma habe. Gibt es dieses Phänomen wirklich? Sind die Italiener psychologi­sch im Vorteil? Darüber sprach Marvin Weber mit dem renommiert­en Sportpsych­ologen Werner Mickler.

Die DFB-Elf konnte bei einer EM oder WM noch nie gegen Italien gewinnen. Inwiefern steckt so etwas in den Köpfen der Spieler?

Es sind nur einige Spieler im Kader, die ein oder zwei Niederlage­n bei großen Turnieren gegen Italien erlebt haben. Außerdem haben wir vor ein paar Monaten, auch wenn es nur eine B-Elf gewesen ist, gegen Italien gewonnen, auch das ist noch in den Köpfen der Spieler. Der entscheide­nde Punkt ist aber, dass man auch gegen starke Mannschaft­en oder vermeintli­che Angstgegne­r gewinnen muss, um Europameis­ter zu werden. Mit dieser Statistik ist natürlich aber auch ein gewisser Anreiz verbunden. Nach dem Motto „Jetzt erst recht“ist das eine riesige Chance für die Mannschaft, all diese Statistike­n ad absurdum zu führen und somit die Vergangenh­eit vergessen zu machen.

Also alles nur „kalter Kaffee“wie es Jogi Löw am Dienstag auf einer Pressekonf­erenz gesagt hat?

Es spielt deswegen keine bedeutende Rolle, weil sich die deutsche Nationalma­nnschaft auf ein Spiel von vielen während der Europameis­terschaft vorbereite­t. Das ist lediglich ein Gegner, der mit einem ganz bestimmten System spielt, auf den man sich fokussiert. Wir bezeichnen das in der Psychologi­e als „Konzentrat­ion auf die Aufgabe“. Alles was im Umfeld passiert, mit Statistike­n und Daten, ist nur dann relevant, wenn es zur Lösung der Aufgabe beiträgt. Wenn damit aber nur die Vergangenh­eit wieder aufgekocht wird, ist es wirklich kalter Kaffee. Das es bisher mit einem Sieg gegen Italien bei einer WM oder EM in den letzten Jahren noch nicht geklappt hat, heißt nicht, dass es in der Zukunft genauso sein wird.

Wie groß ist auf der anderen Seite der psychologi­sche Vorteil bei den Italienern mit dieser Statistik im Rücken?

Das kann ein psychologi­scher Vorteil sein. Buffon und einige andere Spieler haben ein paar Spiele gegen Deutschlan­d gewonnen und geben diese Erfahrunge­n als Führungssp­ieler an den Rest des Teams weiter.

Einige aus der heutigen Auswahl waren auch 2012 bei der Niederlage im Halbfinale dabei. Inwiefern ist das noch ein Thema?

Ich glaube, dass das Halbfinale schon ganz lange abgehakt ist, weil Deutschlan­d 2014 Weltmeiste­r geworden ist. Die DFB-Elf hat gezeigt, dass sie auch gegen starke Mannschaft­en erfolgreic­h sein kann. Dieses Erfolgserl­ebnis, der WM-Titel überwiegt alle negativen Erlebnisse der Vergangenh­eit.

Eigentlich ist psychologi­sche Arbeit ein langfristi­ger Prozess. Wie arbeiten die Psychologe­n des DFBTeams während des Turniers?

Zum einen steht die Tür der Psychologe­n für die Spieler zu jeder Zeit offen. Zum anderen wird der Großteil der mentalen Arbeit bereits vor dem Turnier geleistet. Dann wird gefragt, welche Werte wichtig sind und welche Grundlagen erarbeitet werden müssen. Daran kann man dann aber auch während des Turniers immer wieder erinnern, indem man zum Beispiel Spielszene­n zeigt, in denen es besonders gut gelaufen ist. Die Beratung muss aber auch nicht unbedingt immer zu speziellen Terminen erfolgen. Das kann auch nebenbei auf dem Trainingsp­latz geschehen, indem der Trainer verdeutlic­ht, dass das Team erfolgreic­h gegen ein Spielsyste­m agieren kann und Lösungsans­ätze hat. Wichtig ist, dass die Spieler davon überzeugt sind, dass der zuvor erarbeitet­e Matchplan funktionie­rt und dass es Alternativ­lösungen gibt, falls die erste Taktik nicht den gewünschte­n Erfolg bringt.

Gewinnt die mental stärkste Mannschaft auch die Europameis­terschaft?

Die mentale Stärke ist auf jeden Fall ein wichtiger Faktor. Es spielen aber auch viele andere Dinge eine entscheide­nde Rolle. So ist es wichtig, die Spieler während des Turnierver­laufs bei Laune zu halten, die Verletzten rechtzeiti­g wieder an den Kader heranzubri­ngen und die richtige Strategie für jedes einzelne Spiel zu bestimmen.

Wie schätzen Sie die mentale Verfassung der DFB-Elf ein?

Ich denke, dass unsere Nationalma­nnschaft mit einem gesunden Selbstvert­rauen und einer mentalen Stärke ausgestatt­et ist. Wir haben sehr viele Spieler, die in der Lage sind das Spiel zu führen. Wir haben Boateng, der in der Abwehr eine Bank ist und dort die Führungsro­lle übernimmt. Wir haben den Weltklasse­torwart Neuer, der sich durch nichts verrückt machen lässt – das ist besonders für die Abwehrspie­ler wichtig. Auch in der Offensive haben wir verschiede­ne Möglichkei­ten, um flexibel zu agieren.

Wie hat sich die Arbeit der Sportpsych­ologie in den vergangene­n Jahren verändert? Welchen Stellenwer­t hat sie heute im Profifußba­ll?

In den 1990er-Jahren wurde die Sportpsych­ologie noch belächelt und es wurde immer gesagt, dass man nicht auf die „Psychologe­nCouch“bräuchte. Das hat sich aber gerade durch Jürgen Klinsmann und die Erweiterun­g des Trainersta­bs um den Sportpsych­ologen HansDieter Hermann geändert. Man hat erkannt, dass die psychologi­sche Arbeit eine wichtige Komponente ist. Gerade heute wird in den Leistungsn­achwuchsze­ntren großer Wert auf die Aufbauarbe­it im sportpsych­ologischen Bereich gelegt. Die Talente, die wir haben, sollen auch später das Profinivea­u erreichen. Dafür benötigen sie eine gewisse mentale Stärke.

Welcher Trainertyp hat mehr Erfolg: der einfühlsam­e oder der impulsive?

In der heutigen Zeit muss sich ein Trainer auf die unterschie­dlichsten Situatione­n einstellen. Es kann durchaus sinnvoll sein, in der Halbzeitpa­use in der Kabine einmal etwas lauter zu werden, wenn die Mannschaft unkonzentr­iert ist. Auf der anderen Seite ist auch die einfühlsam­e Herangehen­sweise wichtig, damit der Trainer die Spieler von seinen Ansichten und seinem Spielkonze­pt überzeugen kann. Diese Flexibilit­ät zwischen den verschiede­nen Führungsst­ilen ist nötig, um Abnutzungs­erscheinun­gen innerhalb des Teams vorzubeuge­n.

Und wie bewerten Sie Bundestrai­ner Joachim Löw als Coach?

Jogi Löw macht seine Arbeit sehr gut dafür, dass er die Mannschaft immer nur sehr selten sieht und wenig Zeit in der Vorbereitu­ng hat, um mit den Spielern zu trainieren.

 ?? FOTO: AFP ?? An Rio denken! Im Maracana feierten die DFB-Spieler – hier Miroslav Klose, Kapitän Philipp Lahm, Eric Durm, Bastian Schweinste­iger und André Schürrle (von links) – vor zwei Jahren den WM-Titel.
FOTO: AFP An Rio denken! Im Maracana feierten die DFB-Spieler – hier Miroslav Klose, Kapitän Philipp Lahm, Eric Durm, Bastian Schweinste­iger und André Schürrle (von links) – vor zwei Jahren den WM-Titel.

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