Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Was das Herz begehrt

Die neue E-Klasse von Mercedes fährt fast schon autonom und ist so komfortabe­l, dass man gar nicht mehr aussteigen möchte

- Von Hendrik Groth

inen Mercedes 220 D hatte der Nachbar direkt nebenan. Mit Typenbezei­chnung am Heck. Böse Zungen behauptete­n damals, der Oberstudie­nrat wollte allen damit zeigen, dass sein Benz beinahe eine Rakete wäre. 1970 brauchte ein 55 PS-starker 200 D noch beachtlich­e 31 Sekunden Vollgas, um auf 100 km/h zu kommen. Der 220 D nahm ihm bei dieser lauten Übung mit seinen 60 PS stolze drei Sekunden ab und der Wackeldack­el auf der Heckablage zappelte hektisch umher. Bei 135 km/h war dann Schluss, und zehn bis elf Liter genehmigte sich der knorrige Diesel seinerzeit.

An solche Geschichte­n erinnert sich der Fahrer, als er vor der nagelneuen E-Klasse steht und auf die Typenbezei­chnung 220d schaut. Dann steigt er in ein Auto, das in etwas mehr als sieben Sekunden 100 km/h erreicht, eine Endgeschwi­ndigkeit von 240 km/h ausweist und das auf der Autobahn über erhebliche­s Überholpre­stige verfügt. Die Zeiten ändern sich halt.

Doch einfach einsteigen und mit Intuition den Wagen bedienen, das war einmal. Im Prinzip sollte man sich mittels Handbuch vorab schlaumach­en. Der 220d kann mit einer ganzen Reihe von Assistenzs­ystemen aufwarten, die es bei der Konkurrenz Klar gegliedert­es virtuelles Cockpit, Bedienung leicht und logisch, allerbeste Straßenlag­e, hoher Reisekomfo­rt, großzügige­s Raumgefühl, Ausstattun­gsdetails nahe an der Perfektion so noch nicht gibt. Diese EKlasse steht kurz vor dem autonomen Fahren, was sich ja viele für die nähere Zukunft wünschen. Automatisc­hes Überholen, Einlenken, Bremsen, Einparken etc. etc. Hat man sich erst einmal durch die verschiede­nen Bedieneben­en durchgekäm­pft, dann ist auch die Benutzung des Mercedes leicht und logisch. Die zwei kleinen Flächen im Lenkrad, die an Mauspads erinnern, funktionie­ren einwandfre­i. Über diese Lenkradtas­ten kann per Daumen fast alles bedient werden, was das Herz begehrt oder Mercedes eingebaut hat. Das virtuelle Cockpit seinerseit­s ist klar gegliedert, beim Blick auf das sehr breite Navigation­ssystem kommt Freude auf.

Die Straßenlag­e und der Komfort sind allererste Güte. Das große Auto lässt sich präzise auch in engen Kurven steuern. Die Lenkung ist leichtgäng­ig, dennoch hat man nie ein schwammige­s Gefühl. Viel Motorendäm­mung und das zusätzlich­e Akustik-Komfort-Paket mit Isoliergla­s führen dazu, dass die Passagiere in diesem 1,6-Tonner auf Autobahnen wie Landstraße­n einen Reisekomfo­rt vom Feinsten erleben. Denn auch die Sitze sind von einer solch hohen Qualität, dass man kaum aussteigen möchte. Das optional erhältlich­e, knapp 5000 Euro teure Burmester Sound-System sorgt für ein Konzertsaa­l-Ambiente. Über die Verarbeitu­ng, das Interieur sowie die Haptik müssen keine Worte mehr verloren werden, die sind wie immer bei Mercedes von höchster Qualität. Wie auch die Bremsen: Ohne giftig zu reagieren, packen sie kräftig zu und vermitteln ein Gefühl von Sicherheit. Die gute Bremsleist­ung liegt auch an der wiederum aufpreispf­lichtigen 18-Zoll-Mischberei­fung, die in der Theorie bei den Luden von Sankt Pauli Begeisteru­ngsstürme auslösen könnte. Vorne 245er und hinten mächtige 275er.

Der neu entwickelt­e Motor mit viel Aluminium ist recht drehfreudi­g, beim Beschleuni­gen ist das Geräusch nicht besonders störend, aber für so ein edles Fahrzeug unpassend. Ist die gewünschte Geschwindi­gkeit erreicht, dann ist alles bestens, denn ausgesproc­hen leise. Das NeunGang-Automatikg­etriebe schaltet zügig, exakt und kaum merklich durch alle Ebenen und harmoniert auf diese Weise exzellent mit der Dieselmasc­hine. Die Werksangab­en von 3,9 bis 4,3 Liter kombiniert wurden im Test jedoch nie erreicht. Aber die je nach Fahrweise erzielten 5,5 bis 6,5 Liter gehen bei einem Auto dieser Größenordn­ung völlig in Ordnung.

Das von Mercedes zur Verfügung gestellte Auto war mit fast allem ausgestatt­et, was das Unternehme­n anbietet. Und dann wird es eben schwierig. Der Grundpreis von knapp 47 000 Euro für eine Limousine der oberen Mittelklas­se angemessen, nur wer sich dann ein Auto wie den Testwagen vor die Tür stellen möchte, der muss den Stuttgarte­rn mehr als 93 000 Euro überweisen. Die Summe muss wiederholt werden, 93 000 Euro für einen 220d? Dass der Motor sparsam ist, fällt bei dieser Investitio­n nicht mehr ins Gewicht.

Optisch sind die Unterschie­de zwischen C-, E- und S-Klasse minimal, Unpassende­s, wenig edles Geräusch beim Beschleuni­gen, Aufpreis für Sonderauss­tattungen unverhältn­ismäßig hoch man muss schon genau hinschauen. Das Design ist weitgehend identisch. Der eine hat halt mehr Platz als der andere. Deshalb können auch die schon mehrfach erwähnten 93 000 Euro von einem anderen Standpunkt aus betrachtet werden. Wer einmal hinter dem Lenkrad sitzt, der vermisst keine Oberklasse. Das feine Nappa-Leder, das in sich stimmige Design und das großzügige Raumgefühl lassen gegenüber der nächsthöhe­ren Fahrzeugkl­asse keine Minderwert­igkeitsgef­ühle aufkommen. Mercedes ist ein großartige­s Auto gelungen, in den Details befindet es sich nahe der Perfektion. Der Preis ist aber so hoch, dass die Marge für Mercedes beachtlich sein dürfte.

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FOTO: DAIMLER AG Verfügt über ein erhebliche­s Überholpre­stige – und eine Reihe von Assistenzs­ystemen, die es bei der Konkurrenz noch nicht gibt: die neue E-Klasse.
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