Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Was das Herz begehrt
Die neue E-Klasse von Mercedes fährt fast schon autonom und ist so komfortabel, dass man gar nicht mehr aussteigen möchte
inen Mercedes 220 D hatte der Nachbar direkt nebenan. Mit Typenbezeichnung am Heck. Böse Zungen behaupteten damals, der Oberstudienrat wollte allen damit zeigen, dass sein Benz beinahe eine Rakete wäre. 1970 brauchte ein 55 PS-starker 200 D noch beachtliche 31 Sekunden Vollgas, um auf 100 km/h zu kommen. Der 220 D nahm ihm bei dieser lauten Übung mit seinen 60 PS stolze drei Sekunden ab und der Wackeldackel auf der Heckablage zappelte hektisch umher. Bei 135 km/h war dann Schluss, und zehn bis elf Liter genehmigte sich der knorrige Diesel seinerzeit.
An solche Geschichten erinnert sich der Fahrer, als er vor der nagelneuen E-Klasse steht und auf die Typenbezeichnung 220d schaut. Dann steigt er in ein Auto, das in etwas mehr als sieben Sekunden 100 km/h erreicht, eine Endgeschwindigkeit von 240 km/h ausweist und das auf der Autobahn über erhebliches Überholprestige verfügt. Die Zeiten ändern sich halt.
Doch einfach einsteigen und mit Intuition den Wagen bedienen, das war einmal. Im Prinzip sollte man sich mittels Handbuch vorab schlaumachen. Der 220d kann mit einer ganzen Reihe von Assistenzsystemen aufwarten, die es bei der Konkurrenz Klar gegliedertes virtuelles Cockpit, Bedienung leicht und logisch, allerbeste Straßenlage, hoher Reisekomfort, großzügiges Raumgefühl, Ausstattungsdetails nahe an der Perfektion so noch nicht gibt. Diese EKlasse steht kurz vor dem autonomen Fahren, was sich ja viele für die nähere Zukunft wünschen. Automatisches Überholen, Einlenken, Bremsen, Einparken etc. etc. Hat man sich erst einmal durch die verschiedenen Bedienebenen durchgekämpft, dann ist auch die Benutzung des Mercedes leicht und logisch. Die zwei kleinen Flächen im Lenkrad, die an Mauspads erinnern, funktionieren einwandfrei. Über diese Lenkradtasten kann per Daumen fast alles bedient werden, was das Herz begehrt oder Mercedes eingebaut hat. Das virtuelle Cockpit seinerseits ist klar gegliedert, beim Blick auf das sehr breite Navigationssystem kommt Freude auf.
Die Straßenlage und der Komfort sind allererste Güte. Das große Auto lässt sich präzise auch in engen Kurven steuern. Die Lenkung ist leichtgängig, dennoch hat man nie ein schwammiges Gefühl. Viel Motorendämmung und das zusätzliche Akustik-Komfort-Paket mit Isolierglas führen dazu, dass die Passagiere in diesem 1,6-Tonner auf Autobahnen wie Landstraßen einen Reisekomfort vom Feinsten erleben. Denn auch die Sitze sind von einer solch hohen Qualität, dass man kaum aussteigen möchte. Das optional erhältliche, knapp 5000 Euro teure Burmester Sound-System sorgt für ein Konzertsaal-Ambiente. Über die Verarbeitung, das Interieur sowie die Haptik müssen keine Worte mehr verloren werden, die sind wie immer bei Mercedes von höchster Qualität. Wie auch die Bremsen: Ohne giftig zu reagieren, packen sie kräftig zu und vermitteln ein Gefühl von Sicherheit. Die gute Bremsleistung liegt auch an der wiederum aufpreispflichtigen 18-Zoll-Mischbereifung, die in der Theorie bei den Luden von Sankt Pauli Begeisterungsstürme auslösen könnte. Vorne 245er und hinten mächtige 275er.
Der neu entwickelte Motor mit viel Aluminium ist recht drehfreudig, beim Beschleunigen ist das Geräusch nicht besonders störend, aber für so ein edles Fahrzeug unpassend. Ist die gewünschte Geschwindigkeit erreicht, dann ist alles bestens, denn ausgesprochen leise. Das NeunGang-Automatikgetriebe schaltet zügig, exakt und kaum merklich durch alle Ebenen und harmoniert auf diese Weise exzellent mit der Dieselmaschine. Die Werksangaben von 3,9 bis 4,3 Liter kombiniert wurden im Test jedoch nie erreicht. Aber die je nach Fahrweise erzielten 5,5 bis 6,5 Liter gehen bei einem Auto dieser Größenordnung völlig in Ordnung.
Das von Mercedes zur Verfügung gestellte Auto war mit fast allem ausgestattet, was das Unternehmen anbietet. Und dann wird es eben schwierig. Der Grundpreis von knapp 47 000 Euro für eine Limousine der oberen Mittelklasse angemessen, nur wer sich dann ein Auto wie den Testwagen vor die Tür stellen möchte, der muss den Stuttgartern mehr als 93 000 Euro überweisen. Die Summe muss wiederholt werden, 93 000 Euro für einen 220d? Dass der Motor sparsam ist, fällt bei dieser Investition nicht mehr ins Gewicht.
Optisch sind die Unterschiede zwischen C-, E- und S-Klasse minimal, Unpassendes, wenig edles Geräusch beim Beschleunigen, Aufpreis für Sonderausstattungen unverhältnismäßig hoch man muss schon genau hinschauen. Das Design ist weitgehend identisch. Der eine hat halt mehr Platz als der andere. Deshalb können auch die schon mehrfach erwähnten 93 000 Euro von einem anderen Standpunkt aus betrachtet werden. Wer einmal hinter dem Lenkrad sitzt, der vermisst keine Oberklasse. Das feine Nappa-Leder, das in sich stimmige Design und das großzügige Raumgefühl lassen gegenüber der nächsthöheren Fahrzeugklasse keine Minderwertigkeitsgefühle aufkommen. Mercedes ist ein großartiges Auto gelungen, in den Details befindet es sich nahe der Perfektion. Der Preis ist aber so hoch, dass die Marge für Mercedes beachtlich sein dürfte.