Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Marmelade im Herzen
Die Deutschen verzehren massenweise Lebkuchen – Die Tradition des Gebäcks reicht bis ins Mittelalter zurück
- Abertausende Herzen, Stunde um Stunde, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. In der heißen Produktionsphase von Juli bis November stehen die Laufbänder in der Lebkuchenfabrik Max Weiss in Neu-Ulm niemals still. Dann produzieren und verpacken in drei Schichten rund 250 Mitarbeiter innerhalb von 24 Stunden etwa 100 Tonnen Lebkuchen, darunter auch die mit Marmelade gefüllten Schokoladenherzen.
In zwei Hochleistungsanlagen auf einer Länge von 40 Metern wird das Gebäck je nach Sorte mit unterschiedlichen Formwalzen gestanzt, gebacken, mit Wasser besprüht, mit Füllung geimpft, schokoliert und gekühlt. Die Geräte geben dumpfe, immer im gleichen Takt wiederkehrende, an maschinelles Stampfen erinnernde KlackTöne von sich. In der Nähe der Öfen ist es so warm, dass man sich im T-Shirt wohlfühlen würde. Aber weiße Kittel und Kopfhauben sind aus Hygienegründen Pflicht. Die Männer müssen sogar ihre Vollbärte verhüllen. Lebensmittelsicherheit vor- und großgeschrieben: An drei verschiedenen Stellen des Backvorgangs untersuchen Metalldetektoren die auf dem Band vorbeifahrenden Lebkuchen auf Fremdkörper. Für manche eine wunderbare Vorstellung, Glücksgefühle im Überfluss: Am Tag werden in diesen Maschinen zwischen 25 und 30 Tonnen Schokolade verarbeitet. Kein Wunder, dass es überall danach riecht und natürlich auch nach einer Gewürzmischung aus Zimt, Anis, Nelken, Muskat und anderen klassischen Weihnachtsgewürzen.
Das Lambertz-Imperium
Verpackt und in einer riesigen Lagerhalle gestapelt, warten die schwäbischen Lebkuchen nicht länger als wenige Tage darauf, von ihrem unscheinbaren Herstellungsort im tristen Industriegebiet ihre Reise in die weite bunte Vorweihnachtswelt anzutreten. Selbst in Kanada und Australien isst man Lebkuchen aus NeuUlm. Doch das Gros ist für Deutschland bestimmt. Die Firma Weiss gehört zum Aachener Lambertz-Imperium. „Weiss ist unsere stärkste Marke“, lobt dessen Geschäftsführer und Alleingesellschafter, Hermann Bühlbecker.
Was viele nicht wissen: Weiss produziert aber nicht nur für die Eigenmarke, sondern unter anderem auch für die hauseigenen Label von Aldi, Lidl, Edeka, Rewe und Norma. Die Preise dieser Anbieter für die Lebkuchen weichen stark voneinander ab. Aber: „Die Rezepturen unterscheiden sich nicht sehr voneinander. Der Grundteig besteht vor allem aus Mehl und Glukosesirup“, sagt der stellvertretende Werksleiter Kurt Süsser. „Der eine will allerdings etwas weniger Schokoladenanteil in der Glasur, die Österreicher, zum Beispiel, mögen gerne mehr Zimt im Teig.“Jeden Tag um 10 Uhr verkostet er mit dem Anlagenführer, dem Schichtleiter, der gleichzeitig Bäckermeister ist, einem Vertreter der Qualitätssicherung und einem Techniker Muster vom Vortag. Er braucht ein übereinstimmendes Urteil, um die Charge freizugeben: Stimmt die Weichheit, die Konsistenz, die Feuchtigkeit, die Optik? Doch: „Dasselbe Produkt ist nie 100 Prozent gleich, ein Lebkuchen lebt eben“, sagt Süsser.
Ob braune Lebkuchen, ob mit oder ohne Oblate, ob Nürnberger Elisen-Lebkuchen, Aachener Printen, Pulsnitzer Pfefferkuchen oder Neu-Ulmer Schokoladenherzen: Lebkuchen waren im vergangenen Jahr das beliebteste Weihnachtsgebäck der Deutschen. Und es wird immer beliebter. Das hat eine Studie des Marktforschungsinstituts Nielsen ergeben. Zwischen September und Dezember 2015 kauften Deutsche etwa 36 000 Tonnen Lebkuchen und gaben dafür rund 188 Millionen Euro aus. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum waren das 15 Prozent mehr und damit ein Plus von 25 Millionen Euro. Man könnte meinen, Lebkuchen seien ein Selbstläufer.
Gerd Schmelzer, der Geschäftsführer von Lebkuchen-Schmidt in Nürnberg, gibt sich zurückhaltend: „Lebkuchen gehören zwar zu Weihnachten wie der Baum und die Kerzen, aber Sieg oder Niederlage? Das entscheidet der Umsatz der letzten zehn Tage vor Weihnachten“, sagt er. Der Umsatz sei nämlich so unberechenbar wie das Wetter, mit dem er seiner Beobachtung nach korreliert. Ist es im Herbst und frühen Winter zu warm, bleiben die vorweihnachtlichen Gefühle und damit der frühe Appetit auf Weihnachtsgebäck bei den Verbrauchern aus.
Kindheitserinnerung Blechtruhe
Auch das Unternehmen Schmidt, das kommendes Jahr sein 90-jähriges Firmenjubiläum feiert, produziert für andere Marken wie Edeka, dm sowie Aldi und Lidl. Es bedient allerdings das Bio- und Premium-Segment dieser Unternehmen. Im Sortiment der Supermärkte oder Discounter findet man die Hausmarke Schmidt nicht. Die vertreibt das Unternehmen in sieben eigenen Filialen sowie 148 nur saisonal geöffneten Läden oder Ständen in Einkaufszentren. Oder es setzt auf die nostalgische Verpackung, verschickt per Post. „Eine schöne Kindheitserinnerung für viele ist die große Blechtruhe gefüllt mit Lebkuchen, die kurz vor Weihnachten ankam. Sie ist jedes Jahr anders gestaltet und findet weltweit Sammler“, schwärmt Schmelzer. Lebkuchen, ähnlich wie wir sie heute kennen, haben eine lange Tradition, die bis in das Mittelalter zurückreicht. Nicht nur in Aachen oder Nürnberg schätzt man sie seither wegen ihrer Süße, früher vor allem mit Honig zubereitet, und langen Haltbarkeit. In Ulm sind Lebkuchen schon seit dem 13. Jahrhundert bekannt und beliebt. Es gab sogar ein spezielles Berufsbild der Lebkuchenbäcker, die sogenannten Lebzelter oder Lebküchler. Und es gibt sie noch: Vor allem im sächsischen Pulsnitz, wo Lebküchler als eingetragener Beruf auch heute noch Lehrlinge findet, aber auch in Baden-Württemberg. Konrad Friedmann aus Mannheim hat sich selbst zum Lebkuchenbäcker gemacht. Nachdem er 2009 einem Freund beim Backen des mit 1052 Metern „längsten Lebkuchens der Welt“geholfen hatte, war es um ihn geschehen. Er hängte den Managerjob im Großküchen-Business an den Nagel und beschäftigt sich seither nicht nur mit dem klassischen Weihnachtslebkuchen-Gebäck, sondern erfindet ganz spezielle „SlowFood“-Kreationen, die er für den ganzjährigen Verzehr anbietet. Er knüpft damit an das mittelalterliche Brauchtum an, Lebkuchen das ganze Jahr über zu backen und zu essen. „Lebkuchen sind hervorragende Energiespender, also ideal für Wanderungen und beim Sport“, sagt Friedmann. Und damit man im Frühling beim Radfahren nicht schon an Weihnachten erinnert wird, lässt er die typischen Weihnachtsgewürze weg und ersetzt sie mit anderen frischeren Geschmacksrichtungen, wie Orange oder Ingwer. Seine Lebkuchen-„Wandertaler“aus Kastanienmehl und Haselnüssen verkauft er vorwiegend auf Genussmärkten und in Feinkostgeschäften. Alles Bio, lässt sich erahnen.
Gute Energielieferanten
Auch die Ernährungsberaterin Anna Schnurr von der Klinik Hohenfreudenstadt sieht in Lebkuchen eine gute Alternative zu Sportriegeln: „Vor allem die in Lebkuchen enthaltenen Nüsse mit ihren hochwertigen Fetten machen sie zu einem guten Energielieferanten“, sagt sie. Aber auch die ballaststoff- und eisenreichen Trockenfrüchte sowie die im Orangeat und Zitronat enthaltenen Vitamine seien gesundheitszuträglich. Doch gleichzeitig warnt sie vor dem hohen Zuckergehalt in Weihnachtsgebäck. Im Schnitt bestehen 100 Gramm Lebkuchen etwa zu einem Drittel aus Zucker.
Um Übergewicht und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken zu vermeiden, rät die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Energiezufuhr pro Tag auf zehn Prozent Zucker, besser noch fünf Prozent, zu reduzieren. „Gegen ein oder zwei Lebkuchen pro Tag ist nichts einzuwenden, aber eine ganze Packung ist schon zu viel“, sagt Schnurr. „Alles in Maßen“ist ihr Credo.
Für die meisten Menschen ist die Lebkuchen-Lust kurz nach Weihnachten sowieso schon wieder vorbei und das Gesundheitsrisiko bleibt deshalb begrenzt. Für Süsser in NeuUlm ist die Lebkuchenphase allerdings schon Mitte Dezember zu Ende. Wenn er die Laufbänder der Backmaschinen dann anhält, wird es ruhig bei Weiss. Die meisten Mitarbeiter haben Urlaub, die Wartung der verwaisten Produktionsanlagen steht an. Und alle Herzen sind dann für diese Saison hoffentlich schon am rechten Fleck.