Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Demoskopie und Demokratie
Ihr Allensbacher Institut hat sie in ganz Deutschland bekannt gemacht: Vor 100 Jahren wurde Elisabeth Noelle-Neumann geboren
(epd) - Sie war die Pionierin der Meinungsforschung in Deutschland. Elisabeth Noelle-Neumann (1916-2010) hat die Demoskopie nicht erfunden, aber sie hat diese Form der repräsentativen Befragung aus den USA nach Deutschland gebracht und 1947 das „Institut für Demoskopie“in Allensbach gegründet.
Vor 100 Jahren, am 19. Dezember 1916, wurde die Kommunikationswissenschaftlerin in Berlin geboren. Es wäre interessant gewesen, wie sie gerade im Hinblick auf ihre „Schweigespirale“die rechtspopulistischen Tendenzen in Europa und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten kommentiert hätte.
Die in den 1970er-Jahren entworfene Theorie der „Schweigespirale“ist so etwas wie Noelle-Neumanns Vermächtnis und gerade bei linken Soziologen äußerst umstritten. Sie besagt sinngemäß, dass Menschen ihre Meinung für sich behalten, wenn sie überzeugt sind, zu einer Minderheit zu gehören. Dadurch erscheine ihre Position in der Öffentlichkeit schwächer. Wer sich dagegen im Einklang mit der Umgebung fühle, vertrete seine Position umso lauter und selbstbewusster, was diese stärker erscheinen lasse.
Dazu gehört die Annahme, dass Menschen sich von der in Medien veröffentlichten Meinung lenken lassen, um den „mainstream“zu ermitteln. Jürgen Grimm, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Wien, sieht die Theorie als nur eine Facette, um die Dynamik der öffentlichen Meinung zu beschreiben. Fraglich sei unter anderem, „ob Noelle-Neumann nicht den Konformismus der Menschen überschätzte“. Die Wissenschaftlerin stand im scharfen Gegensatz zu den Denkern der „Frankfurter Schule“, die die Unterdrückungsmechanismen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entlarven wollten. Für sie repräsentierte die aus einem großbürgerlichen Milieu stammende NoelleNeumann exakt jenes Establishment, das die Studentenbewegung der 68er bekämpfen wollte.
Zeitweise wurde sie regelrecht angefeindet, zumal sie als enge Vertraute von Kanzler Helmut Kohl (CDU) galt. Hinzukamen ihre Publikationen als Journalistin während des Nationalsozialismus. Sie schrieb unter anderem für das NS-Propagandablatt „Das Reich“. In ihrer Autobiografie und in diversen Interviews hat sie hingegen beteuert, sie habe sich von den Nationalsozialisten ferngehalten.
Stephan Ruß-Mohl, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Lugano, urteilt aus heutiger Sicht, Noelle-Neumann habe die deutsche Kommunikationswissenschaft international „anschlussfähig“gemacht. „Und sie hat im Gegensatz zu den beiden Großtheoretikern Habermas und Luhmann Bodenhaftung bewahrt, indem sie das Fach in der empirischen Sozialforschung verankert hat und zugleich von ihrem Ausguck im Elfenbeinturm immer wieder Brücken zur Politik und zur Medienpraxis gebaut hat.“
Ihre Bedeutung für die Kommunikationsforschung ist unumstritten. 1964 baute sie an der Universität Mainz das Institut für Publizistik auf. Ihr späterer Nachfolger Hans Mathias Kepplinger bezeichnet seine Lehrerin als „Menschenfängerin“im positiven Sinn. Für den vor fünf Jahren emeritierten Kepplinger ist die Demoskopie „neben den Qualitätsmedien eine Voraussetzung der Funktionsfähigkeit einer Demokratie.“
Ortsname als Synonym
Ein Glücksfall war die Meinungsforscherin für den Ort Allensbach. Wegen der Verkürzung in den Nachrichten („Laut einer Allensbach-Umfrage“) hat sich der Ortsname als Synonym für das dortige Institut für Demoskopie (IfD) eingebürgert.
Tatsächlich handelt es sich um ein bei Urlaubern sehr beliebtes Dorf am Bodensee. In die Region hatte sich Elisabeth Noelle 1933 während eines allerdings nur kurzen Aufenthalts im Elite-Internat in Salem verliebt. 1947 gründete die mittlerweile mit dem CDU-Politiker Erich Peter Neumann verheiratete Noelle-Neumann in einer Allensbacher Garage das IfD. Sie hatte die Meinungsforschung 1937 als Austauschstudentin in den USA kennengelernt und sich mit dem Thema auch in ihrer Dissertation befasst. Die erste Umfrage, ein Auftrag der französischen Militärregierung, galt den Einstellungen deutscher Jugendlicher.
Ihre Nachfolge hatte Noelle-Neumann früh geregelt. Die Geschäftsführung hat sie sich bereits seit 1988 mit Renate Köcher geteilt, die bei ihr in Mainz diplomiert hatte. Köcher bezeichnet ihre frühere Chefin als „ungemein inspirierende Persönlichkeit, neugierig auf die Welt und die Menschen, prinzipienfest und sehr diszipliniert.“
Das Institut residiert seit 1950 in einem der ältesten Gebäude des Dorfes; im Lauf der Jahre sind einige Nachbarhäuser dazugekommen. Anlässlich des 100. Geburtstags wird im Allensbacher Heimatmuseum eine Dauerausstellung zur Bedeutung der Demoskopie für die Demokratie eröffnet. Die Allensbacher selbst hatten stets ein entspanntes Verhältnis zu ihrer berühmten Mitbürgerin – zumal Noelle-Neumann mit Begeisterung an der alemannischen Fastnacht teilgenommen hat. Sie starb 2010 im Alter von 93 Jahren.