Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die Strahlkraft eines Jahrtausendgenies
500 Jahre Isenheimer Altar – Ein Buch spiegelt das weltweite Echo auf Matthias Grünewalds Meisterwerk
M ünchen im Herbst 1918. Der Schlachtenlärm ist gerade verklungen, da drängen sich die Menschen in der Alten Pinakothek vor dem Isenheimer Altar. Im Eisenbahnwaggon, auf Stroh gelagert, ist das gewaltige Meisterwerk des Matthias Grünewald gegen Ende des Weltkriegs aus dem elsässischen Colmar hergeschafft worden – angeblich zur Restaurierung, aber wohl eher, um es für das Deutsche Reich zu sichern. Rund 100 000 sind es, die den Altar bestaunen, gefesselt, aufgewühlt, entsetzt, ergriffen, zu Tränen gerührt – vor allem vor den Bildern der Passion.
Namhafte Zeugen gibt es zuhauf. Bert Brecht zeigt sich sehr beeindruckt. Rainer Maria Rilke und seine Freundin Claire Goll verharren reglos Hand in Hand. Arnold Zweig schreibt: „Setzt alles daran, ihn zu sehen! Ein größeres Bild kann nie mehr entstehen.“Und Thomas Mann notiert: „Im Ganzen gehören die Bilder zum Stärksten, was mir je vor die Augen gekommen.“Kurze Zeit später hat es sich ausgeschaut. Die fulminante Resonanz ist auch den Siegern links des Rheins nicht verborgen geblieben, Grünewald wird 1919 den Verlierern wieder weggenommen und im Triumphzug nach Colmar heimgeholt – ins Elsass, nun erneut ein Teil Frankreichs.
Schleier um Person des Malers
Nur eine kleine Episode in der Geschichte des 1516 vollendeten, also heuer genau 500 Jahre alten Kunstwerks. Aber sie wirft ein Schlaglicht auf die Strahlkraft dieses Künstlers, der 1512 vom Abt des Antoniter-Klosters im elsässischen Isenheim beauftragt worden war, einen riesigen, mehrflügeligen Antonius-Altar zu schaffen. Welche Nachbeben jener Schöpfungsakt auslöste, lässt sich nun in einem Buch erleben, das der Kulturjournalist Wolfgang Minaty im Jubiläumsjahr vorgelegt hat. Akribisch nimmt er alles in den Blick, was je zum Isenheimer Altar, aber auch zu anderen Grünewald-Werken geäußert wurde. Das ist eine ganze Menge, und die Liste der Autoren gleicht einem Who’s who der Prominenz aus Kunst, Literatur, Politik, Theologie und Musik. Wer dieses Jahrtausendgenie der frühen Neuzeit schon immer bewundert hat, wird das zügig, packend, vor allem intelligent geschriebene Buch gespannt zur Hand nehmen – und nicht wieder weglegen.
Bis heute umgibt ein Schleier die Person des Malers. Um 1470 kam er wohl als Mathis Gothart Nithart auf die Welt – der Name Grünewald wurde ihm erst um 1675 fälschlicherweise verpasst. Nach 1505 taucht er als Maler und Baumeister in Diensten des Mainzer Erzbischofs Albrecht von Brandenburg auf und hinterlässt nachweislich Werke in Aschaffenburg, Frankfurt sowie Isenheim. 1526 entlässt ihn Albrecht – höchstwahrscheinlich weil der Künstler mit der Reformation sympathisierte. 1528 stirbt er in Halle. Philipp Melanchthon schreibt wohlwollend über ihn, später preisen ihn Johann Fischart, Abraham a Sancta Clara und Clemens Brentano. Auch der Olympier Goethe nimmt gnädig Notiz. Aber so richtig entdeckt wird Grünewald erst nach 1850, als ihn der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt in den höchsten Tönen lobt. Und dann reißt die Kette der Kommentare zum Schöpfer des Isenheimer Altars bis heute nicht mehr ab – meist von grenzenloser Faszination diktiert, aber teils auch von Unverständnis, Irritation, ja Abscheu.
Faszinierte Betrachter
Hans Thoma jubiliert: „Der größte Schatz an Malerei, den die Deutschen besitzen.“Otto Flake rühmt die „seelische und malerische Tiefe“, Lovis Corinth die „dramatische Kraft“. „Grünewald ist widerwärtig“, erklärt dagegen Gerhart Hauptmann. Und Paul Klee bekennt: „Er erschreckte mich furchtbar.“Die Bandbreite der Anmerkungen zwischen Befremdung und Bewunderung ist atemberaubend. Aber wie auch immer, in Bann geschlagen zeigen sie sich alle, die im Colmarer Museum Unterlinden vor das grandiose Isenheimer Panoptikum treten – ob von der Intimität der Kinderstube Jesu, dem Zauber des Engelskonzerts, der Skurrilität der Teufelsattacken auf den heiligen Antonius, den Farberuptionen der Auferstehung Christi oder vor allem von der gnadenlosen Drastik der Kreuzigung.
Natürlich kamen die Künstler. Picasso, Emil Nolde, Otto Dix, Henry Moore, Francis Bacon, Joseph Beuys, Jasper Johns, Georg Baselitz … Aber auch die Philosophen Ludwig Marcuse und Jean-Paul Sartre waren da, die Politiker Theodor Heuss und André Malraux, die Komponisten Paul Hindemith und Olivier Messiaen, die Filmemacher Luis Buñuel und Werner Herzog, die Autoren Thomas Wolfe und Michael Ende, die jüdischen Denker Martin Buber und Walter Benjamin, die Theologen Karl Barth und Joseph Ratzinger … Was sie danach umgetrieben hat, brachten sie zu Papier, und dieses funkelnde Feuerwerk der Urteile mit den eigenen Empfindungen vor dem Grünewald-Kosmos zu vergleichen, ist schierer Lustgewinn.
200 000 Besucher zieht der Isenheimer Altar alljährlich an, und im unlängst aufs Feinste erweiterten Museum könnten es bald noch mehr werden. Sie kommen aus aller Welt – und bestaunen Weltkunst.