Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die Geister, die Erdogan rief
In der Türkei hat das neue Jahr mit Blutvergießen begonnen – und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass der Hass das Land im weiteren Verlauf des Jahres verschonen wird. Die Türkei wird zur Geisel von rücksichtslosen Gewalttätern, für die jeder Andersdenkende ein legitimes Ziel ist und den Tod verdient. Oppositionelle und Regierungskritiker warnen, die Türkei ähnele immer mehr ihren vom Strudel der Gewalt erfassten Nachbarn Irak und Syrien.
Präsident Erdogan muss sich vorwerfen lassen, zumindest zum Teil für die Entwicklung mitverantwortlich zu sein. Obwohl bei ihm selbst kein Zweifel darüber besteht, dass er Gewalt als Mittel der Politik strikt ablehnt, hat er mit drei fatalen Richtungsentscheidungen in den vergangenen Jahren radikale Käfte in mehreren Lagern ermuntert.
Erstens hat Erdogan den kurdischen Friedensprozess, den er 2013 begonnen hatte, im Sommer 2015 aufgekündigt. Erdogans zweiter Fehler hängt mit dem Syrien-Konflikt zusammen. In den ersten Jahren des Krieges glaubte die Erdogan-Regierung, radikal-islamische Milizen dort als Instrumente im Kampf gegen den verhassten Staatschef Assad lenken zu können. Das hat sich als Fehlschluss erwiesen, der Islamische Staat (IS) schickt nun Selbstmordattentäter nach Istanbul und Ankara. Drittens hat Erdogan es zugelassen, dass in der Türkei eine muslimische Intoleranz um sich gegriffen hat, durch die sich militante Extremisten bestärkt fühlen.
Erdogans Versuche, die konservativ-islamischen Wertvorstellungen seiner Anhänger zu allgemeingültigen Regeln zu erheben, haben nicht nur Minderheiten und das westliche Ausland erschreckt. Sie haben auch einem gesellschaftlichen Klima Vorschub geleistet, das Pluralität nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung und als un-türkisch begreift.
Der Präsident hätte es in der Hand, dies zu ändern. Er könnte die Verhandlungen mit den Kurden neu beginnen lassen. Und er könnte durch Gesten der Solidarität seinen Anhängern eine neue Richtung vorgeben und für Verständigung werben. Leider ist das nicht zu erwarten.