Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Was von Stefan Henze bleibt
Der Augsburger Kanu-Trainer starb bei den Olympischen Spielen in Rio – Seine Organspenden retteten vier Menschen das Leben
In diesen Tagen, sagt Jürgen Köhler, kommt alles wieder hoch. Die Trauer, die Leere, die Fassungslosigkeit. Auch wenn es fast fünf Monate her ist – der Autounfall in Rio de Janeiro, die Tage des Bangens und die traurige Gewissheit, dass Stefan Henze nicht mehr lebt. Der Tod des deutschen Kanu-Trainers mit gerade einmal 35 Jahren ist die Nachricht, die die Olympischen Spiele überschattet. Und zugleich der Beginn einer anderen unfassbaren Geschichte.
Jürgen Köhler, den langjährigen Trainer und Weggefährten, trifft Henzes Tod hart. „Es ist nach wie vor sehr schwer für mich, damit klarzukommen, dass Stefan nicht mehr da ist“, sagt er. Also tut Köhler in diesen Tagen, die besonders schwer erscheinen, was er tun kann. Er erinnert sich an die schönen Zeiten. An den erfolgreichen Canadierfahrer, den er am Bundesleistungszentrum in Augsburg geformt hat. An den offenen, bescheidenen, ehrlichen Menschen, den er 20 Jahre begleitete und für den er erst Trainer und dann Freund war. An den Sportler, der den Schritt zum Trainer wagte – und damit auch in Köhlers Fußstapfen trat. Und er erinnert sich an seinen 70. Geburtstag, den er im Februar in der Gaststätte am Augsburger Hochablass gefeiert hat, mit direktem Blick auf die Kanustrecke. Henze hielt eine Rede auf den Mann, der es nicht lassen kann. Der auch in diesem Alter noch im Wasser steht. Er nannte Köhler seinen „Papa in Augsburg“.
Weihnachten ohne den Sohn
An diesem Tag kurz nach Weihnachten hat Köhler auf dem Weg nach Hamburg in Leipzig haltgemacht. Hat den Auenfriedhof angesteuert, wo Stefan Henze begraben liegt. Hat Jürgen und Karin Henze besucht, die Eltern, die wenige Kilometer entfernt in Markkleeberg wohnen. „Es ist mir ein großes Anliegen, ihnen Mut zuzusprechen“, sagt Köhler. In einer Zeit, die für viele, die einen wichtigen Menschen verloren haben, besonders schwer zu ertragen ist. Weil der Verlust dann noch spürbarer wird – das erste Weihnachten ohne den geliebten Menschen, ein erstes neues Jahr, das er nicht mehr miterlebt.
Auch Ivonette Balthazar denkt in diesen Tagen viel nach. Über den Tod, das Leben, darüber, wie nahe beides beieinanderliegen kann. Die Tränen kullern über ihre Wangen, als sie auf den Mann zu sprechen kommt, der sterben musste, damit sie leben kann. „Ich bin ihm so dankbar“, sagt die 66-Jährige. Anfang August. Rio de Janeiro feiert die Olympischen Spiele, Top-Model Gisele Bündchen läuft bei der Eröffnungsfeier zu den Klängen von „Girl from Ipanema“durchs Maracanã- Stadion. Ivonette Balthazar liegt zu dem Zeitpunkt zwei Kilometer entfernt, in ihrer 50-Quadratmeter- Wohnung, im Bett. Sie ist so schwach, dass sie sich kaum mehr selbst anziehen kann. Vor vier Jahren hatte sie einen schweren Herzinfarkt, nur noch 30 Prozent des Herzens funktionieren. Seit 18 Monaten steht sie auf der Liste für ein Spenderorgan. Sie wartet – und hofft. Ivonette Balthazar, die von Stefan Henze das Spenderherz erhielt
Für Stefan Henze sind es die ersten Olympischen Spiele, bei denen er am Ufer des Wildwasserkanals steht. Mehr als ein Jahrzehnt lang hat er zuvor mit Partner Marcus Becker Erfolge gefeiert. 2003 waren sie Weltmeister im Zweier-Canadier. 2004, bei den Spielen in Athen, holten die beiden Silber. Nun ist der 35-Jährige Bundestrainer der Kanu-Frauen, in Rio betreut er die Kajak-Europameisterin Melanie Pfeifer. Auch die Augsburgerin kann die Medaillenflaute der deutschen Kanuten nicht beenden, sie schafft immerhin Rang sieben.
Die Wettkämpfe liegen bereits hinter ihnen, es ist Henzes letzter Abend in Rio. Am Tag darauf will er mit den anderen Betreuern der deutschen Mannschaft nach Hause fliegen. Gemeinsam mit Sportwissenschaftler Christian Käding bummelt er durch die Stadt. Am frühen Morgen steigen beide in ein Taxi, das sie ins Olympische Dorf bringen soll. Doch das Auto kommt bei hoher Geschwindigkeit von der Straße ab und prallt gegen einen Masten. Käding und der Taxifahrer werden leicht verletzt, Henze erleidet ein SchädelHirn-Trauma. Er wird zunächst in das Olympia-Hospital Lourenço Jorge gebracht, das allerdings keine neurochirurgische Abteilung hat, und dann in eine Spezialklinik, das Hospital Miguel Couto, 21 Kilometer entfernt.
Die Ärzte kämpfen um sein Leben. Noch in der Nacht wird er notoperiert. Die Eltern und sein Bruder Frank reisen sofort nach Rio, die Lebensgefährtin ist in Gedanken bei ihm. Am 15. August, drei Tage nach dem Unfall, erliegt Henze seinen Kopfverletzungen, er wird für tot erklärt. Die deutschen Fahnen in Rio werden auf halbmast gesetzt. „Das IOC trauert um einen wahren Olympier“, erklärt IOC-Präsident Thomas Bach. Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, sagt: „Wir sind unendlich traurig an diesem Tag.“
Es ist der Tag, der Ivonette Balthazars Leben eine neue Wendung gibt. Um 17.30 Uhr klingelt ihr Telefon. 15 Minuten später ist sie im Instituto Nacional de Cardiologia. Sechs Stunden brauchen die Ärzte dort, um ihr ein Spenderherz zu transplantieren. Von wem es ist, weiß sie nicht. Es spielt in diesem Moment auch keine Rolle.
So wie in Deutschland wird auch in Brasilien der Name eines Organspenders nicht genannt. Doch in diesem Fall läuft es anders. Dass Henze Organspender ist und die Familie der Entnahme von Herz, Leber und beiden Nieren zugestimmt hat, wird schnell öffentlich. Die Gesundheitsbehörde des Bundeslandes Rio de Janeiro teilt Tage nach seinem Tod mit, dass die Organe erfolgreich transplantiert wurden. „Damit hat er vier Menschenleben gerettet“, heißt es.
Ivonette Balthazar erfährt schließlich aus den Medien, von wem ihr neues Herz stammt – und bekommt auch die Bestätigung vom Institut, das die Transplantation durchgeführt hat. Die 66-Jährige sagt: „Wenn ich allein bin, lege ich meine Hand auf das Herz und denke mir: Mein Gott, dieser Junge hat mich zurück ins Leben gebracht.“Daheim, in Deutschland, reißt die Geschichte Wunden auf, die gerade notdürftig versorgt schienen. Der Familie war nach der Entscheidung, seine Organe freizugeben, Anonymität zugesichert worden. Dass die Empfängerin nun an die Öffentlichkeit geht, dass sie über ihr neues Leben spricht, trifft die Henzes. „Das war schon extrem – die Zeitung aufzuschlagen und urplötzlich wieder damit konfrontiert zu werden“, sagt der Vater im Gespräch mit der „Mitteldeutschen Zeitung“. Und dass es sich jedes Mal so anfühlt, als ziehe man ihnen den Boden unter den Füßen weg.
Ivonette Balthazar muss noch Mundschutz tragen, der Bakterien wegen. Sie kann nur gekochtes Obst und Gemüse essen. Sie hat schwierige Monate hinter sich. Nach der Transplantation gibt es Probleme, weil das neue Herz nicht die Größe ihres alten hat. Die frühere Verwaltungsangestellte muss jeden Tag sechs Viagra-Pillen nehmen, damit sich die Arterien weiten. Immer wieder Jürgen Köhler, Stefan Henzes väterlicher Freund gibt es Rückschläge. Aber jetzt geht es bergauf. Langsam kann sie auch die Wohnung wieder verlassen. Und wie ist das Herz? „Es ist kaum zu beschreiben. Ich habe meine Freiheit zurückgewonnen.“
Irgendwann will die Brasilianerin die Familie Henze treffen. Danke sagen. Beim deutschen Generalkonsulat in Rio hat Balthazar, kurz nachdem sie erfahren hat, wer der Spender ist, ein Dankschreiben hinterlassen. Karin und Jürgen Henze haben es bekommen – aber bis heute nicht gelesen. „Vielleicht später einmal“, sagt die Mutter. Noch sei sie dazu nicht in der Lage. Der Unfall hat Stefan Henze zur öffentlichen Person werden lassen. Mehr, als er es als Sportler war. Für die Familie ist das eine Last, mit der sie zurechtkommen muss. Und das, wo es schon schwierig genug ist, den Alltag zu bewältigen. Das tut jeder auf seine Weise. Jürgen Henze geht fast jeden Morgen zum Friedhof, ordnet die Blumen auf dem Grab seines Sohnes und sagt ein paar Worte. „Danach kann der Tag kommen, dann ist es okay“, sagt der Vater, einst selbst Kanute. Seine Frau Karin erträgt es nicht, täglich am Friedhof zu sein. Sie hat Unterstützung bei einem Psychologen gesucht, die Gespräche helfen ihr. Frank Henze, der Bruder, lenkt sich durch seine Arbeit ab. Er ist Sportkoordinator am Wildwasserkanal in Markkleeberg; 2012 war er selbst bei den Olympischen Spielen in London als Kanute am Start.
„Wenn ich allein bin, lege ich meine Hand auf das Herz und denke mir: Mein Gott, dieser Junge hat mich zurück ins Leben gebracht.“ „Da lebt noch etwas von Stefan weiter. Und das hilft mir sehr.“
Trainer und Freund
Wenn Melanie Pfeifer im Wildwasser trainiert, wenn sie ins Boot steigt, wenn sie paddelt, ist Stefan Henze dabei. „Die Gedanken an Stefan begleiten mich jeden Tag“, sagt die 30Jährige. Vier Jahre lang war er ihr Trainer. Und ist in dieser Zeit auch ein guter Freund geworden. „Er war immer da und jetzt ist er es einfach nicht mehr“, sagt sie. Und dass es „extrem schwierig“war, den ersten Wettkampf ohne ihn zu fahren.
Über ihr sportlich erfolgreichstes Jahr 2016 kann sich Pfeifer nicht freuen. „Ich denke nicht gerne an die Olympischen Spiele zurück.“Die Studentin versucht sich abzulenken, so gut es geht. Sie trainiert viel, lernt für ihre Prüfungen im Februar. Fürs neue Jahr wünscht sie sich vor allem, dass es Stefan Henzes Familie und seiner Lebensgefährtin gut geht. Dass sie irgendwann wieder lachen können.
Gut zu wissen
Ute, mit der Henze in Augsburg gelebt hat, möchte nicht reden. Zu schlimm waren die vergangenen Monate, zu groß ist die Trauer, sagt Jürgen Köhler, Henzes väterlicher Freund. Er hat selbst zu kämpfen. Der 70-Jährige zieht Kraft aus der ehemaligen Trainingsgruppe, die sich regelmäßig in Augsburg trifft – in der Gaststätte am Hochablass, direkt am Eiskanal, wo die Kanuten trainieren. „Stefan ist immer mit dabei“, sagt Köhler. Und dass es gut ist zu wissen, dass seine Organe anderen Menschen das Leben gerettet haben – erst recht, dass sein Herz in einem anderen Menschen weiterschlägt. „Da lebt noch etwas von Stefan weiter“, sagt er. „Und das hilft mir sehr.“