Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die Autofrau
Die gebürtige Inderin Mamatha Chamarthi soll den digitalen Wandel bei ZF vorantreiben
- Blickt Mamatha Chamarthi in diesen Tagen von ihrem Lieblingslokal aus auf ihre neue Heimat, könnte der Kontrast zur alten kaum größer sein. In den Fenstern des Restaurants Coach Insignia im 70. Stock des berühmten GM-Towers ist das eingefrorene Detroit zu sehen. Amerikas Autostadt und ganz Michigan ächzen unter einer Kältewelle. In ihrer Geburtsstadt fallen die Temperaturen dagegen auch im tiefsten Winter kaum unter zwölf Grad Celsius: Mamatha Chamarthi stammt aus dem indischen Hyderabad, einer Metropole mit mehr als sieben Millionen Menschen 800 Kilometer östlich von Mumbai.
Doch die Stadt ist schon lange nicht mehr die Heimat der Mittvierzigerin, die liegt jetzt im Norden der USA zwischen den großen Seen, dort wo das Herz der amerikanischen Automobilindustrie schlägt. „Ich bin inzwischen länger hier, als ich Indien gelebt habe“, erzählt sie. „Und vor fünf Jahren habe ich zum ersten Mal gesagt, dass Amerika meine Heimat ist.“
Doch die sieht sie seit einiger Zeit nur selten, meist ist Mamatha Chamarthi nur alle drei Wochen ein paar Tage bei ihrer Familie zu Hause in Ann Arbour, einer Kleinstadt westlich von Detroit. Der Grund liegt in einer Entscheidung von ZF-Chef Stefan Sommer: Er ernannte die IT-Expertin im September zum Chief Digital Officer (CDO) von ZF. Seitdem ist Chamarthi verantwortlich für alle digitalen Aktivitäten des drittgrößten Automobilzulieferers der Welt – und sitzt deswegen andauernd im Flugzeug. Sie pendelt zwischen der USZentrale von ZF nahe Detroit und dem Stammsitz des Konzerns in Friedrichshafen (Bodenseekreis), besucht Standorte überall auf der Welt, was ihre seltene Anwesenheit zu Hause erklärt. Einerseits. Andererseits ist da eine Begeisterungsfähigkeit, ein Ehrgeiz, ein Enthusiasmus für den Job, der es verhindert, dass die Managerin an den seltenen Tagen, an denen sie früher zu Hause sein könnte, auch früher zu Hause ist.
„Natürlich ist die Aufgabe eine große Herausforderung, aber hier kann ich Geschichte schreiben“, sagt sie mit fester Stimme. „Wenn wir die richtigen Ergebnisse erzielen, gibt es bei ZF unendlich viele Möglichkeiten.“Chamarthi, die zuvor beim von ZF übernommenen Zulieferer TRW als Chief Information Officer (CIO) fungierte, versteht sich als „Dirigent, der die digitalen Aktivitäten des Konzern orchestriert“. Dass solche Worte die Kärnerarbeit, die auf sie wartet, nur unzulänglich beschreiben, weiß Chamarthi. „Wir müssen die digitalen Initiativen in den einzelnen ZF-Divisionen überhaupt erst einmal sichtbar machen.“
ZF steht vor Fragen, die nicht zuletzt der CDO beantworten muss: Braucht ZF eine Cloud? Reicht die Software-Expertise aus oder muss sich der Konzern über Zukäufe das nötige Wissen beschaffen? Dass Mamatha Chamarthi auf diesem Weg auch die Integration mit TRW weiter vorantreiben muss, ist ihr bewusst. „Wir wollen bis 2025 ein globales Unternehmen sein“, sagt Chamarthi. „Spätestens dann werden wir alle Entscheidungen global treffen.“
Neue Geschäftsideen entwickeln
In der sich rasant verändernden Automobilwelt soll die Amerikanerin die Chancen erkennen, die sich für ZF aus den digitalen Technologien ergeben und daraus Geschäftsideen entwickeln. Das ist Chamarthis Hauptaufgabe. Keine einfache – doch sie wird sie meistern, davon ist der ZFChef überzeugt. „Sie passt hervorragend“, sagt Sommer. „Vor allem auch weil sie über ein breites Netzwerk sowohl in Amerika und Europa als auch in Indien verfügt.“
Dieses Netzwerk hat sich die Managerin in der Zeit aufgebaut, als sie in der IT-Abteilung von DaimlerChrysler zuerst die Fusion und dann das Scheitern des Zusammenschlusses begleitete. Nachdem der gemeinsame Weg der beiden Autobauer zu Ende war, arbeitete sie als CIO bei einem regionalen Energieunternehmen in Michigan. „Aber ich bin eine Autofrau“, erzählt sie.
Ihre früheren Kollegen hat es deshalb nicht verwundert, dass Chamarthi, die nach einem Literaturund Wirtschaftsstudium in Indien in Oakland Informatik studiert und dann ihren MBA an der amerikanischen Kellogg School of Management gemacht hat, wieder zurück in die Automobilbranche wechselte und 2014 bei TRW als CIO anfing. Schließlich war die Managerin bei Daimler-Chrysler bekannt als leidenschaftlicher Autofan. Grund war ein Foto im Mitarbeitermagazin des Konzerns, dass Chamarthi in ihrem Mercedes auf einer der höchsten Sanddünen Michigans zeigte.
Ihre Familie teilt die Autoleidenschaft. Ihre beiden Söhne streben in die Autoindustrie. Der Ehemann arbeitet seit langem für Ford – und ist dort Ingenieur für Diesel-Antriebe. Der Skandal um die gefälschten Abgaswerte bei Volkswagen war natürlich ein Thema im Hause Chamarthi. „Ich war überrascht, dass ausgerechnet ein deutsches Unternehmen solche Probleme hat“, meint die Managerin. Dass der Ruf der deutschen Industrie und der deutschen Ingenieure wegen der Affäre aber langfristig in Verruf geraten könnte, das glaubt Chamarthi nicht. VW werde das Problem lösen und weitermachen.
Die unaufgeregte Art, wie Chamarthi die Krise von Europas größtem Autobauer einordnet, ist typisch für sie. Der zweifelnde Blick zurück ist nicht ihre Sache: Die Amerikanerin schaut pragmatisch nach vorne, Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Und auch bei ZF warten einige Herausforderungen auf Mamatha Chamarthi: Da ist der Trend hin zur künstlichen Intelligenz, ohne den das autonome Fahren nicht möglich sein wird, erläutert die Managerin. Zudem müsse ZF die Geschwindigkeit seiner Prozesse steigern, schließlich verringert sich die Zeit, in der neue digitale Produkte auf den Markt kommen, von Jahr zu Jahr. „Die wichtigste Frage ist allerdings eine andere“, sagt Chamarthi. „Wieviel von unserem mechanischen Hauptgeschäft werden wir mit digitalen Produkten kannibalisieren – und wann müssen wir unseren Schwerpunkt verlagern?“
Die Tatsache, dass ZF ein Stiftungsunternehmen ist und nicht abhängig ist von Investoren, Quartalsberichten und Aktienkursen, mache es dem Unternehmen einfacher, die Aufgaben anzugehen. „ZF kann sich mehr als andere an Produkten und den Wünschen der Kunden orientieren. Das macht vieles einfacher“, sagt Chamarthi. „Und deshalb finde ich es klasse, für ein Stiftungsunternehmen zu arbeiten.“Und da ist sie wieder, die Begeisterung, die Freude, der Enthusiasmus. Der Autor reiste auf Einladung von ZF nach Detroit.