Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Gefährliche Gebrechlichkeit
Experten diskutieren über Pflichtuntersuchungen für betagte Autofahrer
(KNA/dpa) - Ein 84-Jähriger prescht mit seinem Auto in ein Straßencafé, weil er Bremsund Gaspedal verwechselt hat. Die Polizei stoppt einen verwirrten Senior als Geisterfahrer. Spektakulären Schlagzeilen wie diesen folgt in schöner Regelmäßigkeit eine Debatte über Fahrtauglichkeitstests für Senioren und einen Führerschein auf Zeit. Von Donnerstag an wird sich der 55. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar damit beschäftigen, ob Auflagen für Ältere eingeführt werden und ob es „geeignete Instrumente gibt, um älteren Menschen bei größtmöglicher Gewährleistung von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung Hilfestellung beim Erhalt der Mobilität zu geben“. Erwartet werden rund 2000 Verkehrsexperten, die auch über Fahrverbote für Straftäter und höhere Strafen für Smartphonenutzung am Steuer diskutieren.
Die Debatte ist hoch emotional. Schließlich ist das Auto für die meisten Senioren zentrales Mittel zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Nach Angaben des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) besitzen hierzulande mehr als zwei Drittel der über 65-Jährigen einen Führerschein, ein Drittel fährt fast täglich Auto.
Verpflichtende Kontrollfahrt
Versicherungen und Verkehrsrechtler sehen Handlungsbedarf: Senioren sollten vom 75. Lebensjahr an eine verpflichtende Kontrollfahrt an der Seite eines Fahrlehrers absolvieren, fordert etwa der Chef der Unfallforschung des Versicherungsverbands GDV, Siegfried Brockmann. Das Ergebnis solcher Fahrten solle vertraulich bleiben und nur eine Empfehlung sein. Dann könnten Betroffene etwa auf Nachtfahrten verzichten.
Zur Begründung verweist Brockmann auf Daten des Statistischen Bundesamtes von 2015. Demnach verursachten Senioren zwar absolut gesehen weniger Unfälle als Fahranfänger, „75 Prozent der Unfälle mit Personenschaden, an denen Senioren über 75 Jahre beteiligt waren, haben sie aber selbst verursacht“, sagte er. Das sei ein höherer Wert als bei Anfängern. Juristen betonen zudem, dass jeder zweite Geisterfahrer über 65 Jahre alt sei. „Senioren sind insofern auch ein Risiko für andere.“
In einigen europäischen Staaten, wie Norwegen, Schweden oder den Niederlanden seien ärztliche Untersuchungen für Autofahrer ab 70 längst Pflicht, erläuterte der Verkehrsjurist Christian Funk von der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des Deutschen Anwaltvereins.
Die Politik in Deutschland tut sich dennoch schwer. „Pflichttests für Senioren am Steuer wird es nicht geben“, erklärte Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) vor einem Jahr. Der Bonner Psychologe Georg Rudinger sieht auch rechtliche Schranken. „Für die Einführung verpflichtender Tests müsste nachgewiesen werden, dass die Gruppe der älteren Fahrer ein größeres Gefahrenpotenzial darstellt, sonst wären verpflichtende Tests eine nicht zulässige Altersdiskriminierung.“
Altersbedingte Einbußen
Rudinger räumt ein, dass die intensivere Verkehrsbeteiligung der Älteren zu steigenden Unfallzahlen führen werde. Die Unfallbeteiligung der über 65-Jährigen habe sich in 20 Jahren verdoppelt. Fest steht: Viele Ältere haben altersbedingte Einbußen etwa bei Reaktionsgeschwindigkeit, Sehen und der Feinmotorik. Da helfen auch Schulungen wenig.
Einige Initiativen werben für freiwillige Gesundheitschecks. Gefragt sei auch der Hausarzt: Laut einer Umfrage würden 67 Prozent den Führerschein abgeben, wenn der Arzt dies raten würde. Fast 9500 Bundesbürger jenseits des 75. Geburtstags haben im Jahr 2015 ihre Fahrerlaubnis auch ohne ärztlichen Rat freiwillig zurückgegeben, weil sie sich nicht mehr fit für den Verkehr fühlten. Vielleicht ließe sich manch uneinsichtiger Senior leichter darauf ein, den Führerschein freiwillig abzugeben, wenn ein Vorschlag der Deutschen Polizeigewerkschaft umgesetzt würde: Sie fordert, dass alle Menschen über 75 den öffentlichen Personennahverkehr kostenlos nutzen können.