Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Ein Klassiker für die Jugend
Timo J. Herrmanns „Hamlet“zeigt, wie Musiktheater für junge Menschen gelingen kann
- Vorbei sind die Zeiten, als an Opernhäusern Vorstellungen von Humperdincks „Hänsel und Gretel“oder Mozarts „Zauberflöte“für Kinder noch genügten, um das Publikum von morgen heranzuziehen. Heute verlieren Jugendliche aufgrund veränderter Sozialisationsprozesse und Lebensgewohnheiten zunehmend den Bezug zum „klassischen“Musikbetrieb. Längst haben Intendanten darauf reagiert. Neue Konzertformate und Musiktheaterprojekte sollen den Hörernachwuchs heranziehen.
Dramaturgen im Dilemma
Doch das vermeintlich Einfache erweist sich in diesem Bereich oft als schwierig. Denn Dramaturgen und Musiktheaterpädagogen wissen, dass man das junge Zielpublikum dort abholen muss, wo es steht, um positive Erfahrungen mit der Kunstform Oper zu ermöglichen. Komponisten neuer Kinder- und Jugendopern sehen sich so mit dem Dilemma konfrontiert, den Anspruch zeitgenössischer Kunstmusik jenseits von gefälligem Arrangement poppiger Klangmuster zu wahren und gleichwohl eine zugängliche Tonsprache zu finden. Reaktionen von Kindern sind dabei ein untrüglicher Indikator.
Dass verkopfte Konzepte hier nicht ankommen, wurde etwa bei einigen Projekten der insgesamt vorbildlichen „Jungen Oper Stuttgart“deutlich. So ließen beispielsweise Matthias Heeps musikalisch etwas spröde Stücke „Träumer“(2007) und „Momo“(2013) den Eindruck zurück, dass dem Komponisten das Gespür für ein jugendliches Publikum fehlt. Gelegentliche zaghafte Rap- oder Rock-Anleihen wirkten wie aufgeklebte Pflaster. Tonale Elemente oder regelmäßige Rhythmen kamen wie mit angezogener Handbremse daher.
Wie Musiktheater für Jugendliche tatsächlich gelingen kann, zeigt derzeit eine Koproduktion der Oper Dortmund mit dem Kinder- und Jugendtheater der Revierstadt. „Hamlet – Sein oder Nichtsein?“heißt die Kammeroper von Timo Jouko Herrmann (Jahrgang 1978), der als Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler bei Heidelberg lebt. Die Inszenierung (Ronny Jakubaschk) wurde theaterpädagogisch betreut von Heike Buderus und Erika Schmidt-Sulaimon. Musikalisch geleitet wird das erfolgreiche Projekt von dem jungen Dirigenten Ingo Martin Stadtmüller.
André Meyers brillantes Libretto erzählt das Geschehen aus der Perspektive des pubertierenden Hamlet, der den Tod seines Vaters nicht verkraftet. Nach erneuter Heirat der Mutter mit Claudius fühlt er sich allein und verraten. Er spinnt sich ein in Trauer und in die fixe Idee, sein Vater sei umgebracht worden. Was wirklich geschehen ist, bleibt offen. Zunehmend drängt sich aber der Eindruck auf, dass Hamlet psychisch erkrankt ist. Im Gefühlschaos zwischen Depression, Verdächtigungen und seiner Liebe zu Ophelia hört er in seinem Kopf Stimmen.
Herrmann hat diese Einflüsterungen einem kleinen Chor anvertraut, der Hamlet mit Wortwiederholungen verrückt macht oder zu gespenstischen Klängen in makabre Phantasmagorien treibt. Gesang und gesprochene Dialoge sind plausibel auf einzelne Rollen und Situationen verteilt. Singend äußern sich nur die jungen Protagonisten. Ein melancholisches Lied Hamlets wird für Ophelia zum Ohrwurm, den auch sie anstimmt. Die vernünftigen Erwachsenen hingegen singen nicht (mehr). Ihre Sprechpartien werden melodramatisch vom Orchester begleitet.
Zu Beginn erklingen dumpfe Paukenschläge. In einem käfigartigen Konstrukt sitzt der schwarz gekleidete Teenie Hamlet schweigend bei der Urne des Vaters (Bühne und Kostüme: Annegret Riediger). „Sein?“fragt er sich. Das wäre die Entscheidung für das von Claudius vorgeschlagene Internat in London. Hier könnte er Abstand und neue Freunde gewinnen, über sein Trauma hinwegkommen. Oder „Nichtsein“? Hamlet hält sich eine Pistole an die Schläfe. Und plötzlich klingt das abgedroschene Shakespeare-Zitat überraschend triftig.
Ungewöhnliche Farbspiele
Vokal und darstellerisch sensationell bewältigt der junge Bariton Fabio Lesuisse die anspruchsvolle Hamlet-Partie. Von ihm wird man sicher noch hören. Anna Lucia Struck singt als jugendliche Ophelia berührend. Herrmanns bewegliche Musik ist den Dialogen geschmeidig auf den Leib geschneidert und lebt von ungewöhnlichen Farbkombinationen. Lyrische oder schneidend scharfe Klänge schaffen eine packende Atmosphäre. Diesem „Hamlet“würde man gerne in Ulm, Karlsruhe, Heidelberg oder gar Stuttgart wiederbegegnen.