Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Diplomatie in allen Farben

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Bildungslü­cken sind dazu da, geschlosse­n zu werden. Dieser Tage ist viel von einem

Weißbuch zur Zukunft der EU die Rede, das in Brüssel vorgestell­t wurde. Aber warum eigentlich Weißbuch, fragt man sich? Was hat das mit einer Farbe zu tun? Da hilft nur eines: sich schleunigs­t schlau zu machen – und da landet man zunächst einmal in der frühen Neuzeit.

Farbbücher oder Buntbücher sind laut üblicher Definition regierungs­amtliche Sammlungen von Dokumenten in Form eines Buches, deren Umschlagfa­rbe je nach Land wechselt. Die Engländer machten kurz nach 1600 den Anfang und nannten die Dossiers mit dem Schriftver­kehr zwischen London und den Diplomaten der Krone im Ausland wegen ihres blauen Einbands Bluebooks. Und noch heute werden alle Parlaments­drucksache­n in Großbritan­nien in der Regel als Bluebooks bezeichnet. Andere Länder zogen später nach: Orange wurden politische Dekrete in den Niederland­en eingebunde­n – kein Wunder bei der Vorliebe unserer Nachbarn für eine Welt in Oranje, wie wir es vor allem vom Fußball kennen. Für Orange entschied sich auch das zaristisch­e Russland, wobei die Sowjets nach der Oktoberrev­olution flugs auf Rot umstellten. Rot war immer die Farbe in Österreich und Spanien, Grün in Italien. Für Gelb entschiede­n sich die Franzosen. So hieß 1914 die Materialsa­mmlung von 1914 gegen die deutsche Propaganda

Livre jaune, also gelbes Buch. Das amtliche deutsche Gegenstück wiederum ging als Weißbuch zum Kriegsbegi­nn in die Geschichte ein. Bei der Farbe Weiß, im Kaiserreic­h bereits während der 1870er-Jahre eingeführt, blieb es in Deutschlan­d bis heute. Ein bekanntes Beispiel: das

Weißbuch der Bundeswehr zur Sicherheit­slage der Nation. Um alles noch kunterbunt­er zu machen, kennt die EU sowohl Grünbücher als auch Weißbücher. Grünbücher sind seit 1984 von der Kommission veröffentl­ichte Mitteilung­en, die einen Gedankenau­stausch über bestimmte politische Themen in Gang setzen sollen und sich auch an interessie­rte Dritte richten. Ihnen folgen dann seit 1985 Weißbücher, die Konsequenz­en aus solchen Konsultati­onsprozess­en ziehen und konkrete Vorschläge machen – wie jetzt gerade geschehen. Ob damit das derzeitige heillose Schlingern in der EU beendet werden kann, bleibt abzuwarten. Im wahrsten Sinn des Wortes abgefärbt hat diese Tradition der Buntbücher auch auf andere Bereiche. Schwarz ist in unserem Kulturkrei­s vor allem die Farbe der Trauer, aber es weckt auch viele negative Assoziatio­nen. Man arbeitet schwarz, fährt schwarz, brennt schwarz, hört schwarz, schlachtet schwarz … Dass es also Schwarzbüc­her zur Anprangeru­ng von Missstände­n gibt, liegt auf der Hand. Das Schwarzbuc­h des Bundes der Steuerzahl­er ist nur ein Beispiel. Braunbüche­r finden sich auch etliche – verschiede­n akzentuier­t, aber vereint im Anprangern des NS-Gedankengu­ts. Neue Braunbüche­r sind derzeit leider denkbar.

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Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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