Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Luther wäre heute bei Attac engagiert“
Theologe Friedrich Schorlemmer zu Luthers Vermächtnis und Papst Franziskus
- Der Reformator Martin Luther würde sich heute für Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Hätte Luther Papst Franziskus erlebt, hätte er auf die Trennung von Rom verzichtet, sagt Friedrich Schorlemmer im Gespräch mit Ludger Möllers. Der evangelische Theologe Schorlemmer (72) ist Mitinitiator der Bürgerrechtsbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“und als Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs 1989“einer der wichtigsten Repräsentanten der Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR.
Hat Martin Luther mit der Reformation erreicht, was er wollte?
Luther hat selbstkritisch nachgedacht und ist zu dem Schluss gekommen: Wenn es einen neuen Glauben gibt, dann gibt es auch ein dementsprechendes neues Verhalten. Das ist ja an vielen Stellen gelungen. Aber dann erging es ihm wie so vielen großen Persönlichkeiten. Ganz am Ende seines Lebens ist er verzweifelt: Er sollte einen Erbstreit zwischen Protestanten schlichten und ist darüber gestorben. Es ging so, wie es häufig im Leben geht: Die Nachfolger sind nicht in der Lage, das Erbe großen Persönlichkeiten würdig zu leben. Was für ein großes Erbe hat Nelson Mandela Südafrika hinterlassen? Jetzt haben sie Jacob Zuma.
In den 500 Jahren seit der Reformation hat sich auch auf katholischer Seite viel entwickelt. Wie sähe Luther heute die katholische Kirche?
Luther hat unter der Trennung von Rom sehr wohl gelitten, konnte aber die Intriganten und Lustmolche seiner Zeit nicht ertragen. Hätte Luther den heutigen Papst Franziskus erleben dürfen, wäre er begeistert und hätte wohl kaum auf die Trennung hingearbeitet.
Was macht Franziskus anders?
Bei ihm gibt es so etwas wie Orthopraxie statt Orthodoxie, also ein von der Barmherzigkeit bestimmtes Leben. Es gibt richtiges Handeln, das sich nicht an strenger Dogmatik und Traditionsverhaftetheit orientiert. Franziskus stellt die Orthopraxie über die Orthodoxie, also das richtiKirche ge Handeln über den richtigen Glauben.
Ist es richtig, dass die beiden großen Kirchen die Reformation als ökumenisches Fest feiern? Man feiert ja auch keine Scheidung.
Ja, die Reformationsfeiern haben ihre Gründe und ihre Berechtigung. Denn man kann die Veränderungen aus den letzten 50 Jahren heraus feiern, bestimmt durch den Namen des Papstes Johannes XXIII. Man darf trotzdem die schweren Jahre gegenseitiger Missgunst nicht übergehen. Man kann die dunklen Seiten, genannt seien beispielhaft die HexenVerbrennungen und die Ermordung von Millionen Menschen in Südamerika, natürlich nicht aus der gemeinsamen Geschichte ausblenden.
Was hat die katholische Kirche zu feiern?
Es gäbe die katholische Kirche nicht mehr, sagt Nietzsche, hätte es keine Reformation gegeben. Die Reformatoren forderten von der römischen auch Veränderungen, die lebenswichtig waren. Ein Grundübel war gewesen, dass man im Ablasshandel Gott zu einem Schacherer gemacht hat. Gott ist in unserer Welt der Käuflichkeit nicht käuflich.
Was ergibt sich heute?
Jeder Mensch ist ein Gewürdigter. Daraus ergibt sich Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“Das steht leider heute bei nicht wenigen zur Disposition.
Was würde Luther heute anprangern?
Er würde anprangern, dass der Mensch unter seinen Möglichkeiten bleibt. Dass er Trends und Moden folgt. Er würde anprangern, wie wir als reiche Länder mit zwei Dritteln der Menschheit umgehen. Er würde anprangern, dass wir eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung geschaffen haben. Er würde fordern, dass alle würdig in ihrem Umfeld leben können. Und er würde den neuerlichen atomaren Irrsinn anprangern.
Luther hat den Menschen aufs Maul geschaut, ihnen aber nicht nach dem Mund geredet. Heute empfinden wir die Kirchensprache als lebensfremd. Was würde er den Kirchen heute empfehlen?
Luther würde in die Bibel schauen und gleichzeitig ins Gesicht der Menschen. Dann würde er fragen: Was ergibt sich daraus? Er würde den Protestanten ins Gewissen reden und darauf drängen, dass sorgsamer, tiefgründiger und wirksamer gesprochen wird. Er würde dazu ermuntern, dass wir das, was der Sohn des Zimmermanns aus Nazareth, Jesus, uns zuruft, klar, deutlich und fröhlich weitergeben. Und es gilt der Luther-Satz: „Aus der Bibel gilt nur das, was zu Christus passt.“
Wo würde sich Luther heute engagieren?
Luther wäre heute im Bund für Umwelt und Naturschutz und vielleicht auch bei Attac engagiert. Und er würde auch mit uns aufschreien über die fortgesetzte zerstörerische Ausbeutung der Welt. Er würde sich für die Gültigkeit und die Umsetzung der Beschlüsse der Weltumweltkonferenz in Paris einsetzen.
Blicken wir auf die Reformation. Wenn Luther in aller Kürze die wichtigsten Botschaften heute verkünden müsste, welche wären das?
Die Reformation ist vor allen Dingen ein Aufruf zur Erneuerung. „Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Verlangen, sie ans Licht zu bringen“, heißt es am Beginn der 95 Thesen. Luther lebt die Macht der Argumente, nicht das Argument der Macht. Der Mensch ist ein in sich verkrümmtes Wesen, das aber aufsehen und stehen kann. Christus ist mehr als eine Krücke.