Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Demokratie entdecken im Sigmaringer Verwaltungsgericht
Ein nachgespielter Prozess soll zeigen, welche Rechte die Bürger haben – Eine Frau soll für die Kosten eines Asylbewerbers aus Gambia haften
- Der Sitzungssaal im Sigmaringer Verwaltungsgericht ist bis auf den letzten Platz besetzt. So viele Zuschauer sind ein seltener Anblick für die zwei Richter und drei Richterinnen, die die Verhandlung eröffnen. Man vermutet an einem Verwaltungsgericht, wo Klagen gegen Behörden bearbeitet werden, eher trockene Sachverhalte und deshalb auch weniger öffentliches Interesse. Doch an diesem Samstagvormittag ist das anders.
Fünf Jahre lang soll Elke Dreher aus Essen für den Gambier Marong Abdul haften, weil sie eine Verpflichtungserklärung für ihn unterschrieben und ihm dadurch ein Visum ermöglicht hat. Doch ihre Urlaubsbekanntschaft, die sie schon zwei Mal besucht hatte, ist beim dritten geplanten Besuch bei ihr gar nicht erschienen. Stattdessen hat Marong nach seiner Einreise in Deutschland einen Asylantrag gestellt.
Richter schlägt Vergleich vor
Nun soll die 60-Jährige beim Amt für Migration und Integration des Landkreises Ravensburg 950 Euro zahlen, die für den Gambier dort angefallen sind. Dagegen hat sie aber Widerspruch eingelegt, laut Migrationsamt allerdings einen Tag zu spät. Insgesamt belaufen sich die Kosten mittlerweile schon auf 5500 Euro.
Doch nicht der Fall an sich hat die Zuschauer in das Gerichtsgebäude gelockt. Der wird nämlich, obgleich es sich um eine wahre Gegebenheit handelt, nur nachgespielt. Vielmehr stehen die Verwaltungsgerichtsbarkeit als solche und ihre Aufgaben, ihre Bedeutung und Funktion im Mittelpunkt des Interesses.
Unter dem Titel „Demokratie entdecken“hatten das Evangelische Bildungswerk Oberschwaben und das Katholische Dekanat Biberach zu dieser Veranstaltung eingeladen. „Gerade jetzt im Wahljahr ist es besonders wichtig, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Wir wollen staatliche Einrichtungen transparent machen“, sagt Brunhilde Raiser, Geschäftsführerin des evangelischen Bildungswerkes. Das ist auch ein Anliegen von Malte Graßhof, dem Präsidenten des Sigmaringer Verwaltungsgerichts: „Es ist von zentraler Bedeutung für die Bürger zu wissen, dass staatliche Einrichtungen von uns Richtern kontrolliert werden. Auch gegen den Staat ist man nicht machtlos.“Und so sieht es das Grundgesetz im Artikel 19, Absatz 4 vor: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“
Asylfälle vor Gericht nehmen zu
Im zweiten Teil der Verhandlung, dem Rechtsgespräch, erörtern die Richter die Relevanz der einzelnen Ziffern des Kostenbescheides. Muss Dreher tatsächlich für die vollen fünf Jahre generell haften? Ist es für die Haftung von Bedeutung, dass Marong nicht direkt nach Deutschland eingereist, sondern zuerst in Spanien gelandet ist? Warum hat das Amt für Migration und Integration keine Ermessensentscheidung getroffen? Hätte die Verpflichtungserklärung nicht schon lange hinfällig sein können, wäre bereits über den Asylantrag entschieden worden?
Doch Richter Stefan Röck betont: „Wie das Asylverfahren ausgeht, ist rein spekulativ.“Er schlägt einen Vergleich vor: Die Klägerin soll die 950 Euro zahlen und sei damit auch sofort aus der Fünf-Jahres-Verpflichtung entlassen. Der Beklagten-Vertreter will darauf aber nicht eingehen, unter 2500 Euro könne er der Klägerin nicht entgegenkommen.
Daraufhin zieht sich das Gericht zur Beratung und Abstimmung zurück. Graßhof lässt nun die Zuhörer im Saal abstimmen: Eine knappe Mehrheit im Publikum ist dafür, dass die Klägerin überhaupt keine Zahlung leisten müsse. Der Gerichtspräsident war es auch, der auf die Idee kam, ein Verfahren zu zeigen, das mit dem Ausländer- und Asylrecht zu tun hat. Immerhin werden an seinem Gericht mittlerweile etwa 75 Prozent der Fälle zu Asylrechtsfragen verhandelt, Tendenz steigend. Im vergangenen Jahr waren es 2783 Fälle. Für dieses Jahr erwartet Graßhof etwa 4400 Verfahren.
Die Erfolgsquote unter Berücksichtigung von Teilerfolgen liegt für die Kläger allerdings nur bei etwa 25 Prozent. Dabei sind die 30 Richter des Verwaltungsgerichts in Sigmaringen für den gesamten Regierungsbezirk von Tübingen zuständig. Bei mündlichen Verhandlungen wirken immer noch zwei ehrenamtliche Richter mit.
Richter Röck verkündet das Urteil: „Der Bescheid wird bezüglich der unbegrenzten Haftung aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Beide Parteien tragen je zur Hälfte die Kosten des Verfahrens.“
Klägerin muss bezahlen
Das bedeutet, die Klägerin wird aus der unbefristeten Verpflichtung entlassen. Aber sie muss den Streitgegenstand zahlen. Was den Rest des Betrags angeht, müsse der Landkreis Ravensburg prüfen, ob ein Ermessensspielraum angebracht sei. Dass die Klägerin auf Nichtwissen plädiert habe, welche Konsequenzen sich aus ihrer Unterschrift ergeben könnten, reiche nicht aus. Röck weist die Klägerin darauf hin: „Man sollte das, was man unterschreibt, vorher sehr genau lesen.“
Die Mitinitiatorin Kerstin Leitschuh vom Katholischen Dekanat in Biberach kann mit diesem Urteil gut leben, denn ihr geht es um das grundsätzliche Demokratieverständnis: „Dass wir dem Staat nicht ausgeliefert sind und einklagen können, was wir für unser Recht halten, ist ein hohes Gut.“