Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Zurück in der Zukunft
Der VfB Stuttgart ist wieder in der Fußball-Bundesliga, aber die wahre Aufstiegschance kommt erst
STUTTGART - Als Christian Gentner um 17.38 Uhr auf der Haupttribüne die Meisterschale in den Cannstatter Himmel stemmt, sind längst die Dämme gebrochen in der MercedesBenz-Arena. An die 10 000 Fans haben den Platz gestürmt, sie hüpfen und tanzen Pogo vor dem Kapitän des VfB Stuttgart. „Sollten wir absteigen, würde mir das viel näher gehen als damals 2007 die Meisterschaft, das wäre viel schlimmer“, hatte Gentner vor etwas mehr als einem Jahr gesagt. Aber so ein BundesligaAufstieg scheint emotional mit einem Abstieg durchaus mithalten zu können. Die Augen des 31-jährigen Nürtingers glänzen, als er vor den 60 000 den Siegerchor anstimmt: „Wenn du mich fragst, wer Meister wird, dann sage ich zu dir: Das können nur die Schwaben sein, die Jungs vom VfB“, singt Gentner. Und: „Tausend Dank an euch, ohne euch Wahnsinnige wäre das nie möglich gewesen.“
Tatsächlich hat der VfB in dieser Saison vor allem mit seinen Fans Geschichte geschrieben: Mit den 60 000, die Zeuge des finalen 4:1 gegen Würzburg wurden, kommt der Club am Ende auf 50 700 Fans im Schnitt – mehr als Inter Mailand oder der FC Chelsea. Das ist deutscher Rekord im Zweitligafußball. Selbst an trüben Novembertagen gegen Arminia Bielefeld kamen 55 000 – mehr als im Oberhaus.
Die Zeiten haben sich geändert in Stuttgart. Ein Jahr nach dem 1:3 gegen Mainz und dem Abstieg nach 39 Jahren Bundesliga, als ein wütender Mob den Platz stürmte, Spieler beleidigte und bedrohte, sieht man am Sonntag den schönen, friedlichen Aspekt dieses Sports. Fußball kann Menschen glücklich machen, sie fiebern lassen, vor Euphorie schreien und vor Spannung schreien machen. Er kann sie so vereinen, dass sie binnen Sekunden weiß-rote Meere und Flüsse bilden, „1893, hey, hey“singen und sich gegenseitig küssen, auch wenn sie sich eigentlich wildfremd sind und nur zufällig auf dem Rasen und Wasen begegnen.
Die Trikots der Alten
Viele der etwa 120 000 Männer und Frauen, die am Sonntagabend im Neckarpark feiern, tragen Khedira- und Gomez- und Werner-Trikots, und spätestens da wüsste auch ein Ortsund Farbenunkundiger, es muss sich um Fans des VfB Stuttgart handeln. Nur wenige Anhänger dieser Welt würden bei einer Aufstiegsfeier Leibchen tragen von Spielern, die längst weg sind und beim Geldadel in Turin, Wolfsburg oder Leipzig spielen. Schwaben denken offenbar anders: Es ist ihre Art, Traditionsbewusstsein zu zeigen und Haushaltsdisziplin und auch ein wenig Trotz. „Scho zom Bossa“, würde ein Werner-Trikot-Inhaber wohl sagen. Oder auch: „In meinem Herz spielt der no“.
Im Sommer dürften etliche Teroddeund Ginczek-Träger hinzukommen, denn beim VfB, dem fünffachen deutscher Meister, der Nr. 5 der ewigen Bundesliga-Tabelle und Gründungsmitglied, herrscht nach einem Jahrzehnt des Niedergangs wieder Aufbruchstimmung. 8000 neue Mitglieder hat der VfB seit dem Abstieg gewonnen, sie wollen den Weg der neuen Führung mitgehen, der kurioserweise der uralte ist, nämlich: Auf die eigene Jugend zu setzen. Der Nachwuchs war stets der Erfolgsgarant des VfB. Ob 1977, beim Wiederaufstieg, als plötzlich Hansi Müller und zwei Förster-Buben für Furore sorgten, oder 2007, wo die sogenannte zweite Generation der Jungen Wilden sensationell den Titel holte.
Die Gomez’, Khediras und Werners, die am Sonntag so ausgelassen sind, sind auch ein Mahnmal gegen die Vergesslichkeit. Das Schicksal des 22-jährigen Ex-Stuttgarters Joshua Kimmich ist es auch. Mit 17 war der Defensivstratege, geboren in Rottweil, zum größten Talent seines Millionen Euro pro Jahr. Glaubt er.
Die Alternative zur Ausgliederung sei, zu einem Ausbildungs- und Fahrstuhlverein zu werden, sagt er. Also hat sich der VfB allerhand einfallen lassen, um möglichst viele Freunde zur Abstimmung zu bringen. Er zahlt jedem Fan das Bus- oder S-Bahn-Ticket zur Anreise, jeder bekommt ein neues Trikot, falls die alten eines Tages durchgewetzt sind.
Untypischer Manager
„Drei Jahre Bewährungszeit“, forderte ein Kritiker von Dietrich bei einer Wahlkampfveranstaltung in Ehingen. Tatsächlich ist in den letzten Jahren oft Schindluder betrieben worden mit dem Geld beim VfB. Allerdings: Der VfB ist jetzt wohl nur deshalb aufgestiegen, weil Dietrichs Vertraute, die verbliebenen Vertreter der Industrie, im Sommer 2016 nach dem Rücktritt von VfB-Chef Bernd Wahler die richtigen Entscheidungen trafen. Die Aufsichtsräte Martin Schäfer (Würth), Wilfried Porth (Daimler) und Helmut Jenner (Kärcher) entließen zunächst den Sportdirektor Robin Dutt, holten als Trainer-Sicherheitslösung zunächst den Zweitliga-Experten Jos Luhukay sowie Manager Jan Schindelmeiser, der in Hoffenheim gezeigt hatte, dass er junge Talente an den Club binden kann. Dietrich zur Präsidenten-Kandidatur zu bewegen, war ebenfalls der Verdienst des Rats.
Vor allem die Installation Schindelmeisers war nach den Reinfällen mit Bobic und Dutt Gold wert. Nach einem peinlichen 1:2 gegen den Nachbarn Heidenheim sowie öffentlicher Kritik Luhukays an den jungen Zugängen zog der Manager im Oktober die Notbremse und entließ den Holländer und präsentierte in Hannes Wolf (36) das Gegenmodell: einen Unbekannten, der mit Dortmunds Nachwuchs Meister war.
Schindelmeiser ist ein untypischer Manager, einer, der nach Hoffenheim eine sechsjährige Auszeit nahm, sich in vielen Fußball-Feldern weiterentwickelte, Netzwerke aufbaute und seinen Porsche-Oldtimer restaurierte. Das will er nun auch mit dem VfB tun . „Der Club muss wie ein Start-up-Unternehmen denken“, sagt er. Lange Jahre bedeutete Tradition beim VfB, dass jeder vor sich hinwurschtelte.
Gegen Würzburg hat der VfB die erste Aufstiegshürde genommen, die zweite, wichtigere, folgt am 1. Juni bei der Mitgliederversammlung. 120 Fußballer in der ersten und zweiten Bundesliga und in ersten Ligen im Ausland hätten ihr Handwerk beim VfB Stuttgart gelernt, sagt Dietrich. Es werde Zeit, dass er wieder selbst davon profitiert.