Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Wenn Essen zur Droge wird
Essstörungen zählen zu den schweren psychischen Krankheiten – Die Betroffenen führen ein Doppelleben voller Heimlichkeiten
- Das Essen sieht lecker und nahrhaft aus, der Ober serviert: Lachs mit Sesamkruste auf Blattsalat mit Avocado und Chicoree. Doch landet das Gericht schon bald in der Toilette? „Nein“, sagt Julia (Name geändert) und zerteilt mit der Gabel den Lachs, „ich habe extra etwas Gesundes bestellt, das außerdem 14 Euro kostet – damit ich es nicht auskotze.“Allerdings habe sie kurz überlegt, Kässpätzle zu ordern, günstiger im Preis und fettreich; die Portion wäre vermutlich im Klo der Biberacher Gaststätte gelandet.
Gesund statt ungesund, kostspielig statt preiswert; nur eine von unzähligen Strategien, die sich die 39Jährige im Laufe der Jahre angeeignet hat, um dem Stress einer seelischen Krankheit Herr zu werden, unter der sie seit ihrer Kindheit leidet: Bulimie, auch Ess-Brech-Sucht genannt, eine Form der Essstörung.
Heimliche Erkrankungen
Schätzungen nach leiden fünf bis zehn Prozent der Menschen in Deutschland an Essstörungen, jede dritte Frau und jeder siebte Mann zeigen Anzeichen dafür. Überdies dürfte die Dunkelziffer erheblich sein, geben sich die Betroffenen doch ungern zu erkennen. „Essstörungen sind in der Regel heimliche Erkrankungen, sie finden im Verborgenen statt. Und damit verbundene Praktiken, etwa nächtliche Essanfälle, werden als schambesetzt erlebt“, sagt Katharina Avemann vom Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen, das seit 30 Jahren auch bundesweit Betroffene berät.
Wobei Essstörung nicht gleich Essstörung ist, Fachleute unterscheiden drei Arten: Die Magersucht, bei der die Betroffenen bewusst hungern, Kalorien zählen, den Energieverbrauch puschen – und sich dennoch als zu dick empfinden. 5 bis 15 Prozent von ihnen sterben an einem geschwächten Körper oder durch Suizid. Bei Binge Eating wiederum, einer weiteren Form, verlieren die Betroffenen die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme, Heißhungerattacken mit Suchtcharakter bestimmen ihr Leben, was in manchen Fällen zu Fettleibigkeit (Adipositas) führt.
Genau jene Gewichtszunahme, die Bulimiker durch Erbrechen zu vermeiden suchen. Äußerlich erscheint Julia daher völlig normal, sie sieht jünger als ihre 39 Jahre aus, hat eine weibliche und attraktive Figur, sie misst 1,65 Meter, kennt aber ihr Gewicht nicht. Schließlich wolle sie nicht „nach der Waage kotzen“, wie so viele ihrer Leidensgenossinnen, die sich von Diät zu Diät quälen, ohne das Problem zu lösen.
Gewahr wurde Julia ihrer Erkrankung im Alter von elf Jahren, als sie in einer Mädchenzeitschrift einen Artikel über Bulimie las. Damals hat sie die Mahlzeiten in eine Schüssel erbrochen und unterm Bett im Kinderzimmer versteckt. Die Mutter, erschrocken und entsetzt, entdeckte die Schüssel, darüber geredet haben die beiden trotzdem nicht (siehe das Interview mit der Mutter unten). „Meine Mutter hat die Schüssel dann immer geleert, gereinigt und mitten in mein Zimmer gestellt – das war unsere Form der Kommunikation“, erinnert sich Julia.
Essstörungen, vielfach noch immer tabuisiert, waren damals weit unbekannter als heute. Zudem war von der Elternseite eine Generation betroffen, die in den 1930er- und -40er-Jahren geboren wurde und es gelernt hatte, ihre Gefühle abzuspalten, Probleme zu verdrängen und zu verschweigen. Verzweifelt und hilflos lies die Mutter ihre Tochter in eine Klinik zwangseinweisen. Der Erfolg: null. Das junge Mädchen verweigerte sich komplett, stemmte sich gegen alles und jeden – und kapselte ihrerseits die Gefühlswelt ab. Nimmt man den Charakter der Krankheit, erscheint die Blockade nicht ungewöhnlich.
„Alle Essgestörten sind an Beziehungen erkrankt“, sagt Ute Grundt, Sprecherin der Overeaters Anonymous, einer internationalen Selbsthilfegruppe für Menschen mit Essstörungen, deren Programm auf den zwölf Schritten der Anonymen Alkoholiker beruht. „Das Essen dämpft die Gefühle ab“, fährt Grundt fort. „Es dient dazu, eine unaushaltbare Situation zu überstehen.“
Die Betroffenen hätten oft im Kinderund Jugendalter Zurückweisung und Vernachlässigung erlebt, so die Fachfrau. Auch Missbrauch, emotionaler wie psychischer Natur, sei ebenso häufig Ursache wie die Überforderung eines Kindes: „Das Kind soll dann in eine Rolle, in der es nicht rein gehört. Und Verantwortung übernehmen, die es nicht übernehmen kann.“Über das Essen könne es „emotional abtauchen“.
Abtauchen wollte auch Julia, schon in frühen Jahren. Als sie sechs Jahre alt ist, stirbt völlig unerwartet der Vater, an Magenkrebs, ausgerechnet, möchte man meinen. In ihrer Trauer rücken Mutter und Tochter eng zusammen.
Sehr eng, wie sich Julia erinnert: „Ich habe dann immer im Bett meiner Mutter geschlafen. Und wir haben gelitten und gestritten wie ein Paar.“
Das Mädchen entwickelt eigene Strategien, um emotional zu überleben. Futtern statt fühlen, dazu tricksen, täuschen und manipulieren wie ein Heroinjunkie. Versteckt die Mutter den Schlüssel zur Vorratskammer, Julia findet ihn. Verbirgt die Mutter Vorräte im Keller, Julia entdeckt, verschlingt und erbricht sie. Als junge Frau geht das Versteckspiel weiter, sie kellnert, muss sich während einer Schicht manchmal 20-mal übergeben, perfektioniert das lautlose Erbrechen, um auf öffentlichen Toiletten nicht aufzufallen.
Daheim wird sie von Fressattacken gepackt: Nudeln mit Butter, Nudeln mit Parmesan, Nudeln mit Tomatensauce, Nudeln mit Schmand, „und alles immer wieder raus“.
Manchmal verkriecht sie sich zu Hause, gerät in einen Zyklus aus BettKühlschrank-Toilette-Bett-Kühlschrank-Toilette-Bett ..., der sich nur durch Alkohol oder Schlaf unterbrechen lässt. Manchmal feiert sie, trifft Männer und muss auch da die Fassade wahren: „Ich habe immer ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn Steak mit Kräuterbutter und Bananensplit in der Toilette landen, zumal wenn er bezahlt hat.“
Geschädigte Zähne
Und immer wieder wundert sie sich: „Es ist mir ein Rätsel, warum ich nicht schon längst einen Herz- oder Schlaganfall hatte, denn dieses Doppelleben, das ich schon so lange führe, ist ziemlich anstrengend.“Ihr einziges körperliches Leiden sind tatsächlich geschädigte Zähne – angegriffen durch die Magensäure infolge des vielen Erbrechens.
Überstanden hat sie die Qualen, weil sie irgendwann doch einen Weg findet. Mit 20 Jahren geht Julia wieder in eine Klinik. Anfangs stemmt sie sich erneut gegen die Hilfsangebote, als ob es eine emotionale Kernschmelze zu verhindern gelte. Um dann doch, ganz langsam, die traumatischen Gefühle zuzulassen. Der erste, wichtige Spalt ist geöffnet.
„Essstörungen sind immer psychosomatische Krankheiten“, sagt Katharina Avemann vom Zentrum für Ess-Störungen. Herzstück einer jeden Behandlung sei daher, ob ambulant oder stationär, eine Psychotherapie. In der die seelischen Störungen dechiffriert werden, um Raum zu schaffen für ein neues Selbstbild.
Starkes Selbst entwickeln
„Es geht dabei im Kern darum zu lernen, sich selbst annehmen zu dürfen, so wie man ist“, und „überhaupt herauszufinden, dass Emotionen durch ein starkes Selbst reguliert werden können“. Selbsthilfegruppen wie Overeaters Anonymous seien dabei für viele Menschen eine sehr wertvolle Unterstützung und unverzichtbarer Bestandteil in der Versorgungslandschaft bei Essstörungen. „Sie können Behandlungswege toll ergänzen.“
Julia, die sich inzwischen als selbstständige Grafikdesignerin mit ungewöhnlich hoher Kreativität einen Namen gemacht hat, weiß längst um diese Mechanismen. Sie weiß, dass „Bulimie kein Pudel ist, der neben mir läuft, sondern in mir steckt“. Und sie weiß, dass es auch bei ihr darum geht, „Gefühle zuzulassen, ohne sich klein zu fühlen“. Damit sich irgendwann Scham und Schuld auflösen, damit aus zwei Leben eines wird.
„Alle Essgestörten sind an Beziehungen erkrankt.“Ute Grundt von Overeaters Anonymous