Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Handwerk bricht mit Konventionen
Betriebe öffnen sich für Menschen mit Handicap – Auch Frauen und Studienabbrechern wird der Einstieg erleichtert
„Unser Ziel ist es, die Handwerksberufe noch ausgewogener zu gestalten.“ Dominik Maier von der Handwerkskammer Ulm
- Die Nähmaschinen surren, Stoffbahnen flattern über einen großen Tisch, unzählige Nadeln, Stifte und Scheren liegen bereit. Und immer wieder erfüllt Lachen den Raum. Vier Frauen arbeiten zusammen in der Schneiderei von Christine Keller in Langenargen im Bodenseekreis. „Das ist volle Frauenpower im Handwerk“, sagt die Schneidermeisterin.
Rund 30 Kilometer weiter arbeiten Anna Schweizer, Anna Steur und Ina Nann ebenfalls in einer Werkstatt. Die drei Frauen sind beim Malerbetrieb Kaiser in Lindau angestellt. „Wenn wir zu einem Kunden kommen, stutzen die oft zuerst, wenn eine Frau kommt“, erzählt Malermeisterin Steur. Wer einen Handwerker bestellt, erwartet wohl immer noch einen kräftigen Mann an der Haustür. Die Skepsis lege sich aber immer recht schnell, wenn die Arbeit gut erledigt wird, sagen die drei Malerinnen. Auch unter ihren 15 männlichen Kollegen seien sie als gleichwertig akzeptiert, bestätigt ihr Chef, Malermeister Ulrich Kaiser: „Jeder macht dieselbe Arbeit. Und das Betriebsklima ist angenehmer, wenn ein gemischtes Team zusammenarbeitet.“Im September steigt eine weitere Frau als Auszubildende ein. Der Kreishandwerksmeister hat bayernweit Kontakte zu anderen Malerbetrieben und beobachtet, dass immer mehr Frauen in sein Handwerk kommen: „In den vergangenen zehn Jahren sind 20 bis 30 Prozent Frauen unter den Auszubildenden eingestiegen.“
Dieser Trend zeichnet sich laut Handwerkskammer Ulm zwischen Jagst und Bodensee in allen Gewerken ab: Jeden fünften Betrieb in der Region führt eine Frau, rund 25 Prozent der Auszubildenden sind weiblich. Die Handwerkskammer erwartet, dass diese Zahl in den nächsten Jahren auf ein Drittel ansteigt. Nachholbedarf bestehe aber klar noch auf dem Bau, sagt Dominik Maier, Fachbereichsleiter für Nachwuchswerbung der Handwerkskammer Ulm: „Da wollen wir gegensteuern, zum Beispiel mit dem Girls Day, an dem Mädchen Handwerksberufe ausprobieren können. Unser Ziel ist, die Handwerksberufe noch ausgewogener zu gestalten.“Bei Informationsveranstaltungen der Handwerkskammer sei ihm in den vergangenen Jahren aufgefallen, dass immer mehr Mädchen dazukommen. Das gestiegene Interesse habe auch etwas mit dem Wandel der Berufsbilder im Handwerk zu tun, sagt Maier: „Die Hemmschwelle, ins Handwerk einzutreten, ist auch für junge Mädchen geringer geworden, da mittlerweile viel mit Technik und Computern unterstützt wird. Die körperlich schwere Arbeit hat in vielen Berufen abgenommen, Frauen haben da keinen Nachteil mehr.“
Für Malerin Anna Steur ist dies ebenfalls ein Grund, warum immer mehr junge Frauen sich für ein Handwerk wie ihres interessieren: „Die körperliche Arbeit hält sich in Grenzen. Klar ist es zu Beginn schwer, 25 Kilogramm Putz oder volle Farbeimer zu heben. Aber man gewöhnt sich dran.“
Die Schneiderinnen aus Langenargen und die Malerinnen aus Lindau zeigen: Das Handwerk ist keine Männerdomäne mehr. Seit einigen Jahren steigt die Quote von Frauen im Handwerk und besonders die Zahl der Betriebsleiterinnen: Rund 30 000 handwerkliche Betriebe in Baden-Württemberg werden von Frauen geführt. Mittlerweile liegt der Anteil der Frauen im Handwerk nach Angaben der Handwerkskammer Ulm bei mehr als 30 Prozent – und damit höher als in der Industrie. Diese Offenheit hat einen Grund: Das Handwerk braucht dringend Fachkräfte. Deshalb öffnen sich die Arbeitgeber nicht nur verstärkt für Frauen, sondern bieten auch Studienabbrechern und Menschen mit Handicap vermehrt Ausbildungsmöglichkeiten an. „Der Bedarf an Fachkräften ist einfach da. Das Handwerk ist absolut offen dafür und bietet viele flexible Möglichkeiten für Menschen mit einem Handicap“, erklärt die Betriebsberaterin für Inklusion der Handwerkskammer Ulm, Sonja Ruetz.
Beruf und Familie vereinbaren
Die flexiblen Möglichkeiten im Handwerk haben auch die Frauen in der Langenargener Schneiderei überzeugt. Für sie ist ein weiterer Aspekt bei ihrer Berufswahl besonders wichtig gewesen: Job und Familie miteinander vereinbaren zu können. Die Arbeitszeiten und das Ausbildungsmodell seien im Handwerk flexibler und bei einem Team aus vier Mitarbeiterinnen könne man gut über individuelle Anpassungen sprechen, sagt Schneidermeisterin Keller. Ihre beiden letzten Auszubildenden haben jeweils 25 Wochenstunden gearbeitet.
Diese sogenannte Teilzeitausbildung sei ein möglicher Weg, um das Handwerk für Frauen attraktiv zu machen, sagt Dominik Maier von der Handwerkskammer Ulm: „Das ist natürlich für alle eine Möglichkeit, für Männer und für Frauen. Die Teilzeitausbildung richtet sich aber gezielt an Frauen, die nach einer Geburt wieder arbeiten möchten.“Dabei müsse dann im Betrieb abgesprochen werden, ob die Ausbildung halbtags oder zeitlich ganz flexibel absolviert werden kann, je nach Branche.
„Die Handwerksbetriebe können leichter auf die einzelnen Mitarbeiter eingehen als ein großes Industrieunternehmen.“Das Modell habe noch viel Potenzial, erklärt Maier: „Der Bedarf an guten Lehrlingen ist definitiv da im Handwerk. Deswegen öffnen sich die Betriebe für neue Ausbildungsmodelle.“Wie viele Lehrlinge derzeit im Gebiet der Handwerkskammer Ulm eine Teilzeitausbildung machen, dazu liegen noch keine Zahlen vor. Das Thema Teilzeitausbildung sei allerdings noch zu unbekannt.
Dass das Handwerk offen für besondere Modelle der Ausbildung ist, davon ist auch Betriebsberaterin Ruetz überzeugt. Sie ist die Ansprechpartnerin für Betriebe in der Region der Handwerkskammer Ulm, die Menschen mit Behinderung ausbilden und beschäftigen wollen. „Mein Auftrag ist es, mehr Betriebe für die Arbeit mit Menschen mit Handicap zu sensibilisieren“, erklärt Ruetz.
Gerade begleitet sie zum Beispiel Bernd Moll. Der 32-Jährige hat eine Lernbehinderung und schließt im Juli seine Lehre in der Zimmerei Gaiser in Oggelshausen im Landkreis Biberach ab. Dafür wird er im Juli das Modell eines Dachstuhls anfertigen müssen. Wenn er die Prüfung schafft, möchte er weiter als Ausbaufacharbeiter in der Zimmerei Gaiser arbeiten. „Mir macht das Werkeln in der Werkstatt und das Arbeiten mit Holz sehr viel Spaß. Es ist schön, wenn man abends sieht, was man gearbeitet hat“, sagt Moll. Zu seinen täglichen Aufgaben in der Werkstatt gehören unter anderem Sägen, Hobeln, Material umladen, Gabelstaplerfahren und Aufräumen.
Mit viel Motivation sei er bei der Arbeit, freut sich sein Chef, Zimmerermeister Roland Gaiser. „Unser Team ist mittlerweile eingespielt. Es braucht aber natürlich viel Geduld und vor allem viel Kommunikation untereinander, damit alles klappt“, erläutert der Chef. „Ich schreibe Bernd alle Arbeitsanweisungen noch mal genau auf, damit er weiß, was zu tun ist.“Manchmal sei es auch schwer, Kunden auf einer Baustelle zu vermitteln, warum der eine Auszubildende nicht die gleichen Aufgaben erledigen könne wie der andere Lehrling oder der Meister. „Es ist eine Herausforderung für unseren Betrieb, aber man darf nicht nach vier Wochen den Kopf in den Sand stecken“, sagt der Zimmerer. Auch der zweite Auszubildende im Betrieb, Joshua Glaser, schätzt Bernd als zuverlässigen Kollegen: „Man braucht manchmal Geduld, aber es macht Spaß mit ihm zusammen zu arbeiten. Der Vorteil in einer Werkstatt ist, dass man sich gegenseitig bei der Arbeit zuschauen und voneinander lernen kann.“
Nach dem regulären Unterricht in der Berufsschule in Ravensburg fährt Bernd Moll zweimal die Woche nach Biberach zum Förderunterricht. Für Sonja Ruetz ist das ein weiterer Beweis für seine Motivation, die Ausbildung zu schaffen.
Handwerk statt Universität
Motiviert ist auch Aaron Hofmann. Frustriert und unzufrieden mit seinem Elektrotechnikstudium hatte er sich nach neuen beruflichen Perspektiven umgesehen. Statt einer theoretischen wünschte er sich eine praktische Ausbildung. Der 21-Jährige hatte zunächst ein Elektrotechnikstudium aufgenommen, weil er nach dem Abitur noch nicht richtig wusste, was er arbeiten wollte. Seit Herbst macht er nun eine Ausbildung in der Flaschnerei Stelzer in Ellwangen. „Ich habe ein paar Praktika in der Region gemacht und der Beruf des Flaschners hat mir dann am meisten zugesagt.“
Er ist einer von drei Lehrlingen im Betrieb, die jeweils einen anderen Schulabschluss mitbringen: Hauptschule, Mittlere Reife und Abitur. „Der schulische Abschluss steht bei mir nicht im Vordergrund. Wichtiger sind mir Werte wie Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und Vertrauen auf der Basis von Ehrlichkeit“, erklärt Betriebsleiter Peter Stelzer. Die Bewerbung von Studienabbrecher Hofmann habe ihn gefreut: Das Team werde durch ihn bereichert.
Dass ehemalige Studenten im Handwerk neue Perspektiven bekommen, hat auch Michaela Lundt von der Handwerkskammer Reutlingen festgestellt. Sie hat im vergangenen Jahr vier Studienabbrecher in Handwerksbetriebe vermittelt. „Ein Studienabbrecher fühlt sich oft, als habe er versagt. Ich sage dann immer, dass sie um eine Erfahrung reicher sind und dafür wissen, was sie wirklich wollen“, erzählt die Beraterin der Handwerkskammer, die auch für Lehrstellenvermittlung zuständig ist. Oft müsse sie auch mit Eltern sprechen, die es nicht verstehen können, wenn ihre Kinder eine akademische Laufbahn aufgeben, um ins Handwerk einzusteigen. „Die Hauptsache ist doch, dass der junge Mensch seine Arbeit gern macht und damit auch gut in seinem Job ist. Alle ehemaligen Studenten, die ich bisher begleiten durfte, waren sehr glücklich in ihrer handwerklichen Ausbildung.“
Vermutlich gibt es noch viel mehr Studienabbrecher, die auch ohne Beratung der Kammer ins Handwerk wechseln, sagt Beraterin Lundt. Manche Studenten würden sich Inspiration holen und dann auf eigene Faust nach einer Ausbildung suchen. Oft kämen sie eher in größeren mittelständischen Firmen unter: „Kleinere Betriebe befürchten, dass Studienabbrecher nach ihrer Ausbildung weitermachen wollen und doch noch an die Hochschule gehen, anstatt im Betrieb zu arbeiten.“Aber genau da liege auch eine Stärke: Die Handwerkskammer hofft, dass ehemalige Studenten im Handwerk potenzielle Betriebsnachfolger werden. Neue Perspektiven