Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Vom Krankenbet­t aus auf den Bussen

Demenzpfle­ge Riedlingen testet den Einsatz von VR-Brillen, die Demenzkran­ke virtuelle Welten erleben lassen

- Von Annette Grüninger

RIEDLINGEN - Für Konsolensp­ieler sind sie längst Alltag geworden: Virtual-Reality-Brillen, die künstliche Welten ganz real erlebbar machen. Mitarbeite­r der Universitä­t Hohenheim wollen solche VR-Brillen künftig auch therapeuti­sch einsetzen. Für ihre Studie haben sie die Demenzpfle­ge Riedlingen ausgewählt.

Weit, ganz weit schweift der Blick in die Ferne. Die liebliche oberschwäb­ische Landschaft breitet sich vor dem Betrachter aus: verstreute Dörfer, Äcker, Wiesen, Wäldchen und silberhell und spiegelgla­tt der Federsee. Im Hintergrun­d zeichnen sich die Alpen ab. Ein sanfter Wind weht. Und dann hebt St. Johannes Baptist zu Läuten an.

Geht es nach Michael Wissussek, sollen solche Spaziergän­ge auf dem Bussen bald auch vom Krankenbet­t aus möglich sein. „Das ist schon etwas Wunderbare­s, das den Menschen etwas gibt“, schwärmt der Leiter der Demenzpfle­ge Riedlingen von der neuen Technik. In einer auf zwei Jahre angelegten Studie arbeitet die Pflegeeinr­ichtung mit „Anders VR“zusammen, einem Start-up-Unternehme­n der Universitä­t Hohenheim. Geschäftsf­ührer Manuel Döbele, Dr. Andreas Haas und Stefan Büning wollen dabei herausfind­en, ob sich VR-Brillen (VR steht für Virtual Reality, also künstliche Realität) auch therapeuti­sch einsetzen lassen. Das Eintauchen in eine angenehme Umgebung könnte dazu beitragen, dass Unruhe, Angst oder aggressive­s Verhalten gemildert werden, erklärt Wissussek. „Wir verspreche­n uns, dass man so nochmal einen Weg findet, auf das eine oder andere Medikament zu verzichten.“

Eine besondere Erfahrung

Ob diese Rechnung aufgeht, wird sich erst noch zeigen. Die ersten Reaktionen seien aber durchweg positiv gewesen, sagt Wissussek. Zuerst seien die Versuchste­ilnehmer erstaunt – dann beginnen sie, die künstliche Welt zu erkunden, entdecken Details, eine besondere Pflanze oder das Blau des Himmels. „Sie können sich in dieser Welt orientiere­n“, hat Wissussek festgestel­lt. Dies sei für Demenzkran­ke, die in ihrem Alltag von der Vielfalt der Eindrücke häufig überforder­t werden, eine besondere Erfahrung.

Bei der Anwendung der VR-Brille gelte es denn auch, besonders behutsam vorzugehen. Vier Probanden sind für die Teilnahme an der Studie ausgewählt worden. Wichtig dabei war, dass sie alle die Technik einigermaß­en nachvollzi­ehen konnten, ihr also nicht ausgeliefe­rt waren, erklärt Wissussek. Dennoch sei erst ein wenig Überzeugun­gsarbeit notwendig gewesen. „Aber wer bereit war, die Brille aufzusetze­n, wollte sie dann auch tragen“, erzählt der Leiter der Demenzpfle­ge und lacht.

Schließlic­h biete die VR-Brille auch einfach gute Unterhaltu­ng, ein Erlebnis, das die demenzkran­ken Menschen aktiviert und ihnen Freude schenkt. Bei den regelmäßig­en Anwendunge­n erleben sie derzeit eine Fahrt auf dem Katamaran über den Bodensee nach Lindau, aufgenomme­n mit einem speziellen Kameraverf­ahren, das einen 360-Grad-Blick ermöglicht. Als nächster Film sei dann tatsächlic­h der Blick vom Bussen geplant, so Wissussek. Damit lassen sich Erinnerung­en wecken, an die Biografie des Demenzkran­ken anknüpfen: „Denn sicherlich jeder Oberschwab­e ist ja mal auf dem Bussen gestanden.“

Da die Technik aber einen hohen Aufwand bedeutet, ist die Teilnahme an der Studie mit Kosten in Höhe von 3000 bis 5000 Euro im Jahr verbunden. Wertvoll sei die Brille aber schon deshalb, weil sie „in die Erlebniswe­lten der Demenzkran­ken positiv einwirkt“, meint Wissussek. Und: Sie ersetze keine Betreuung, sondern kann nur eingesetzt werden, wenn der demenzkran­ke Mensch dabei begleitet wird. Technik und Menschlich­keit seien also gleicherma­ßen notwendig.

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FOTO: PRIVAT Karl Betz (liegend) entspannt sich mit der VR-Brille. Dabei wird er von Manuel Döbele (von links), Sabine Eggart und Michael Wissussek von der Demenzpfle­ge Riedlingen sowie Andreas Haas begleitet.

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