Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Der erste Schultag sollte ein Festtag sein“
Jörg Fegert erklärt, wie ABC-Schützen den Übertritt vom Kindergarten zur Schule erleben
BIBERACH - Für viele Kinder im Landkreis Biberach beginnt in dieser Woche ein neuer Lebensabschnitt: die Schulzeit. Doch was bedeutet dieser Schritt für die Sprösslinge aus psychologischer Sicht und wie können Eltern ihre Schützlinge bei dieser Veränderung unterstützen? Daniel Häfele hat dazu bei Professor Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie bei der Uniklinik Ulm, nachgefragt.
Wenn etwas Neues beginnt, haben viele ein flaues Gefühl im Magen. Vielen ABC-Schützen dürfte es bei ihrem ersten Schultag ähnlich ergehen. Warum empfinden wir dieses Gefühl der Aufregung?
Übergänge und Schwellensituationen treten im Leben immer wieder auf. Sie sind verbunden mit Anspannung und Vorfreude. Die meisten Kinder sind enorm stolz, zur Schule zu dürfen. Gleichzeitig erfassen sie, dass nun eine neue Lebensphase beginnt. Sie merken das nicht zuletzt an der Aufregung der Eltern. In allen Kulturen sind solche Übergänge oder, wie man es wissenschaftlich nennt, „Transitionen“häufig durch Rituale oder Initiationsriten begleitet. Damit wird deutlich gemacht, dass ein ganz neuer Abschnitt beginnt, dass man zu einer neuen Gruppe gehört. Rituale und Feiern reduzieren Angst und geben der angespannten Neugier einen Rahmen. Insofern hat der erste Schultag, die Schultüte, eine besondere Bedeutung und sollte, wenn möglich, auch ein Festtag für die Erstklässler sein.
Von der Spielkiste zur Schulbank – wie groß ist dieser Schritt aus entwicklungspsychologischer Sicht?
Sehr viel stärker als noch im Kindergarten kommt nun der Leistungsaspekt zum Tragen. Die Schriftsprache muss erworben werden, die Grundrechenarten sollen erlernt werden. Jetzt wird die Basis für das spätere Zurechtkommen im Leben gelegt. Dies ist vielen Eltern heutzutage nur zu bewusst, während die Kinder noch sehr unbeschwert spielerisch an die Dinge herangehen. Gerade, weil Mädchen und Jungen oft auch neurologisch unterschiedlich ausreifen, kommen Mädchen zum Zeitpunkt der Einschulung mit den Herausforderungen der „Schulbank“ nämlich dem Stillsitzen, dem sich Konzentrieren, häufig besser zurecht als viele Jungen.
Woran machen Sie dies fest?
In meinem Fach, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, sehen wir im Grundschulalter weltweit sehr viel mehr Probleme bei Jungen – und zwar vor allem in Bezug auf Impulskontrolle und Aggressivität. Das heißt für manche Kinder, die schon Konzentration und Geduld entwickelt haben, bedeutet der Unterricht in der ersten Klasse genau die richtige Herausforderung, damit es ihnen nicht langweilig wird. Andere können noch nicht so lange stillsitzen. Wichtig ist, dass Kinder in dieser Phase den Spaß an der Schule nicht gleich zu Beginn verlieren.
Wie können Eltern Ihren Kindern helfen, damit dieser Schritt reibungslos abläuft?
Begleitung, Aufmunterung, aber auch Bewunderung für den großen Schritt sind wichtig. Kinder brauchen auch in diesem Alter noch viel Geduld, wenn es einmal nicht klappt und immer wieder sehr viel Wertschätzung für ihre ersten Schritte.
Welche Entwicklung durchlaufen die Kinder während der Grundschulzeit?
Die Denkprozesse verändern sich bei Grundschulkindern in den ersten Klassen. Viele Kinder beginnen, in diesem Alter Dinge zu sammeln und zu sortieren. Das heißt: Es gibt auch ein natürliches Bedürfnis nach Klassifikation von Gegenständen, mehr Organisiertheit in den Abläufen und eine zunehmende Logik. Zwischen Beginn und Ende der Grundschulzeit nimmt der Wortschatz zirka um ein Vierfaches zu und erreicht nach den ersten vier Jahren etwa 40 000 Worte. Auch emotional werden die Kinder subtiler in ihrer Wahrnehmung, sie können plötzlich erkennen, dass Menschen mehr als eine Emotion gleichzeitig haben können. Sie können sozusagen mit gemischten Gefühlen stärker umgehen und entwickeln immer mehr Empathiefähigkeit, was für die Herausbildung stabiler Freundschaften und Beziehungen wichtig ist.
Vielleicht noch nicht am ersten Tag, aber bald werden die Lehrer den Kindern Hausaufgaben aufgeben. Wie lässt sich das Erledigen der Hausaufgaben für Kind und Eltern stressfrei gestalten?
Wichtig ist auch hier die Etablierung von Ritualen. Die Hausaufgaben sollten nicht als Letztes gemacht werden, wenn schon alle müde sind. Gleichzeitig sollten die Hausaufgaben auch nicht die einzige zentrale Interaktion zwischen Eltern und Kindern sein. Da zunehmend Kinder auch in diesem Alter schon internetfähige Smartphones besitzen und hierdurch abgelenkt werden, sollte während der Hausaufgaben mindestens in den ersten zwei Schuljahren ein Smartphoneverbot gelten.
Sollten Eltern ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen?
Wenn den Eltern deutlich wird, dass ihr Kind etwas nicht verstanden hat, sollten sie es freundlich erklären, aber gleichzeitig das Kind auch ermutigen, es sich in der Schule noch einmal erklären zu lassen. In Deutschland haben wir mit die größten schichtabhängigen Unterschiede im Bildungserfolg. Dies liegt daran, dass sich viele Schulen darauf verlassen, dass Eltern die Funktion als Co-Lehrer übernehmen. Kinder sollten sich ihr Wissen in der Schule holen können.
In der Schule geht es um Leistung. Inwiefern sollten Eltern ihren Kindern klarmachen, was sie von ihnen erwarten?
Das machen Eltern schon zur Genüge durch alles Mögliche deutlich. Längerfristig ist für den Erfolg der Selbstwert der Kinder, ihr Mut nachzufragen, ihre Möglichkeit, sich zu beteiligen, wichtiger, als dass sie in der ersten Schulwoche verinnerlicht haben, dass sie nicht nur für die Schule, sondern für das Leben lernen.