Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Jäger der verborgenen Orte
Michael Bender erkundet verlassene Stätten und hält die Ästhetik des Zerfalls mit der Kamera fest
Das diffuse Licht von Michael Benders Stablampe tastet über rostiges Metall und feuchten Beton. Langsam bewegt sich der 28-Jährige durch den schmalen Gang im Untergeschoss. Ein Geländer trennt ihn von Rohren, Leitungen und Kompressoren. Spinnenweben streifen sein Haar. Außer dem metallisch-dumpfen Hallen seiner Schritte herrscht hier Stille. Und das seit langer Zeit. Denn die Schalter, Hebel und Knöpfe, die das Licht von Benders Lampe nach und nach preisgibt, hat seit Monaten niemand mehr gedrückt. Die Wellen und Kurbeln der Maschinen haben sich seit Jahren nicht gedreht und den Metallrost, auf dem er gerade geht, hat vermutlich lange niemand mehr betreten. Ein Paradies für den 28-Jährigen.
Michael Bender ist Urban Explorer. Er erkundet sogenannte „Lost Places“: verlassene Orte, wie leer stehende Wohnhäuser, verborgene Bunkeranlagen, Industriebrachen und Katakomben. Regelmäßig reist er durch ganz Baden-Württemberg, um neue Objekte für seine Erkundungen zu finden. Seine Mission: Die Geschichte des Zerfalls archivieren. Heute ist er in einer stillgelegten Papierfabrik im Landkreis Ravensburg unterwegs. Am frühen Morgen hat er sich auf den Weg gemacht und eine Fahrt von fast 200 Kilometern auf sich genommen.
Bender stellt sein Fotostativ auf den staubigen Betonboden und kniet sich daneben. Er blickt durch den Sucher, dreht das Stativ noch einmal um ein paar Grad. Dann drückt sein in den abgenutzten Handschuh gehüllter Zeigefinger mehrfach auf den Auslöser. „Es ist krass, wie weit der Zerfall hier vorangeschritten ist. Normalerweise bin ich in Gebäuden unterwegs, die fünf bis zehn Jahre länger leer stehen und die nicht so aussehen“, sagt Bender und verrückt sein Stativ hastig zum nächsten Motiv.
Rückblick. 24. Dezember 2015. Der 80 Grad warme Faserstoff schießt über das Laufband der 150 Meter langen Maschine. 20 Arbeiter der Frühschicht kontrollieren die Papierbahn, die mit bis zu 1000 Metern pro Minute über die Walzen jagt. In der Luft liegt Dampf, der Geruch von abgestandenem Wasser und das Dröhnen der rotierenden Maschinenteile. Tonnenweise Papier spuckt die Maschine aus, aufgerollt auf riesigen Zylindern. Dann, um 14 Uhr, ist Schluss. An Weihnachten gehen die Maschinen für immer aus – nach fast 150 Jahren. Rund 200 Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz.
Jetzt herrscht Stille in den Produktionshallen. Nur das monotone Brummen der Wasserturbine irrt noch durch die Hallen und verliert sich in der Dunkelheit zwischen Kurbeln und Wellen. Die zwölf Meter hohen Maschinen, in denen sich jahrelang Holzfasern zu Papierbahnen verbunden haben, stehen auch nach zwei Jahren Stillstand unverändert in der Fabrik. Die Metalloberfläche der Papiermaschine ist in eine weißgraue Schicht aus getrocknetem Papierbrei und Kalk eingehüllt. Rissig, wie ausgedörrter Boden platzt sie langsam ab. Von der Decke abgeblätterte Farbe, getrocknete Reste der einst flüssigen Papiermasse vermischen sich mit Federn von hier lebenden Vögeln zur Ästhetik der Vergänglichkeit – zur Ästhetik, die Michael Bender für seine Fotos sucht.
Ganz oben auf einer der Maschinen thront ein Holzkreuz, mit einem Trauerkranz. „RIP“steht in großen Buchstaben darauf geschrieben. Eine letzte Ehre, die die Papiermacher ihrem Arbeitsgerät erbracht haben. „Da fragt man sich, welches Gefühl die Leute hatten, als sie von der Schließung erfahren haben“, sagt Bender. Noch immer hängt das DINA4-Blatt an der Wand, das die Mitarbeiter vor zwei Jahren über die Schließung informierte. Bender positioniert sein Objektiv davor. „Das gehört jetzt eher nicht zu den Fotos, die ich bearbeite und online stelle, aber es dokumentiert die Geschichte“, erklärt er. Denn es geht um weit mehr als nur ein gutes Fotomotiv. „Ich will die Geschichte dieser Orte dokumentieren und zeigen, dass so ein verfallendes Gebäude kein Schandfleck ist.“Auf seinen Streifzügen findet er oft Dokumente, Fotos, Briefe, die die Geschichte ihrer einstigen Bewohner erzählen. Geschichten, die Bender mit seiner Kamera konserviert. Deshalb streunt der Ur- ban Explorer auch heute durch die Papierfabrik, klettert auf Maschinen und zwischen Rohren hindurch, wie in einem Museum, ohne Glasvitrinen und Absperrungen aus rotem Tau.
Mit zwölf Jahren erkundet er zum ersten Mal eine verlassene Fabrik. Das Dach war teilweise eingestürzt und die staubigen Fensterscheiben zerbrochen. „Man hat wirklich gesehen, wie die Zeit dort stillsteht“, sagt
Bender heute. „Als mein Vater das erfahren hat, hat er mich fast umgebracht“, erinnert er sich. Ungefährlich sind Benders Touren auch heute nicht. „Man muss gut aufpassen, jeder Schritt könnte dein letzter sein.“Schon mehrfach seien Urban Explorers verunglückt. Doch stoppen kann Bender das nicht. Zu groß ist die Faszination.
Mehrere Stunden pro Woche verbringt er mit der Recherche von neuen „Lost Places“. Insolvenzen, Google Earth, Leerstandsmelder, Internetforen. „An Tagen, an denen ich viel recherchiere, schlafe ich auch mal nur zwei Stunden in der Nacht. Es kann auch mal sein, dass ich auf einer Tour in meinem Auto übernachte“, erzählt der 28-Jährige. Rund 6500 Fotos von mehr als 60 verlassenen Orten sind so in den vergangenen drei Jahren zusammengekommen. Ein Archiv des Zerfalls. Die Fotos stellt er auf seine Webseite oder in eine Facebookgruppe mit dem Namen „Lost Places in Baden-Württemberg“. Sie hat mehr als 2000 Mitglieder – Tendenz steigend. Es ist eine von unzähligen Onlineplattformen, auf denen sich Urban Explorers austauschen. Nur eins verstößt gegen die Regeln: den genauen Standort von „Lost Places“zu verraten. Das gehört zum Ehrenkodex der Szene. Auch den genauen Standort der Papierfabrik wird Bender nicht veröffentlichen.
„Wir halten die Gebäude geheim. Es hat sich einfach gezeigt, dass wenn die Orte bekannt werden, zu viele Leute reingehen und einfach nur zerstören“, sagt Bender. Ein großes Problem, das auch mit dem wachsenden Interesse der Medien einhergeht. „Wir nehmen nichts mit außer Fotos, und lassen nichts da außer Fußabdrücke.“Das ist das Credo der Szene.
Trotzdem ist Benders Leidenschaft nicht ganz legal. Denn egal wie lange eine Fabrik auch leer steht – einen Besitzer gibt es in der Regel dennoch. Einen Zaun aufschneiden, oder eine Tür aufbrechen kommt für ihn nicht infrage. „Das wäre Einbruch, so ist es höchstens Hausfriedensbruch“, sagt Bender. Erwischt wurde er bisher nie. Dennoch stören ihn verschlossene Türen. „Ich finde es einfach nur schade, wenn man die Türen einfach abschließt und die Geschichte, die sich im Inneren abgespielt hat, vergisst.“Für die rund 200 Mitarbeiter der Papierfabrik ist das Leben weitergegangen. Und früher oder später wird auch dieser „Lost Place“verschwinden – vielleicht zugunsten eines Neubaus. Doch zumindest in Benders Archiv wird er nun erhalten bleiben.
360- Grad- Fotos aus der stillgelegten Papierfabrik im Kreis Ravensburg sehen Sie unter: schwäbische. de/ papierfabrik- 360