Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Kleine Wunder der Schöpfung
Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau – Vor 300 Jahren starb die faszinierende Maria Sibylla Merian
FRANKFURT - Ob es ihr jemals gegraust hat? Das fragt man sich tatsächlich bei all den Spinnen, Käfern und Maden, die sie gesammelt hat – nicht etwa mit der Pinzette, sondern mit den bloßen Fingern, um sie später häufig noch auseinanderzuschnippeln. Aber was für die meisten igittigitt ist, zog Maria Sibylla Merian magisch an. Das „Kleinvieh“hat daher einen ganz besonderen Stellenwert im Werk der ebenso beliebten wie ungewöhnlichen Pflanzenmalerin, die vor 300 Jahren gestorben ist.
Man schiebt das unwillkürlich ein bisschen zur Seite, die Tulpen, Narzissen und Mimosen sind halt gar zu schön und erst recht die zartrote Buschrose, mit der das Frankfurter Städel im Jubiläumsjahr seine aktuelle Merian-Ausstellung bewirbt. Doch für die forschende Künstlerin waren auch die „kleinsten und geringsten Würmlein“als Teil der göttlichen Schöpfung „zu preisen“, wie sie 1679 im Vorwort zu ihrem gefeierten Buch über die Raupen und deren Metamorphosen schrieb. Deshalb liegen Puppen auf den Rosenknospen, und durch die Blüte frisst sich eine Larve der Miniermotte.
Tochter von Matthäus Merian
Der virtuose Umgang mit Stift und Pinsel kommt nicht von ungefähr. Sibylla, die 1647 in Frankfurt geboren wird, wächst in einer Künstlerfamilie auf. Ihr Vater ist der Verleger und Kupferstecher Matthäus Merian, dessen Stadtansichten hochgeschätzt sind. Nach dessen Tod, da ist die Kleine erst drei Jahre alt, wird Jacob Marrel ihr Stiefvater. Der Maler erkennt das Talent des Mädchens und bringt ihm neben dem Zeichnen und Aquarellieren bald das Radieren und Kupferstechen bei. Blumenbouquets sind das Thema, und auch hier gesellen sich gleich Schmetterlinge, Raupen oder Eidechsen hinzu.
Merians Spezialität hat einige Vorbilder, die im Städel nun aufgefächert und in aufschlussreiche Bezüge gebracht sind. Von der Buchmalerei über den Meister ES und Martin Schongauer bis hin zu Marrels Lehrer Georg Flegel, dem Vater des Blumenstilllebens in Deutschland, der auf seinen Blättern bereits die Insekten krabbeln lässt.
Dass Sibylla dann aber eine auffallende Leidenschaft für Raupen entwickelt, hat mit ihrer ersten großen Entdeckung zu tun: Die 13-Jährige bekommt Seidenspinnerlarven geschenkt, füttert und zeichnet ihren winzigen Schachtel-Zoo, und als die ersten Schmetterlinge schlüpfen, ist sie außer sich vor Freude. Fortan streift das Mädchen durch Wiesen und Gärten, sammelt und hält ihre Funde detailgetreu fest.
Viel später, da ist die Merian schon über 50, wird diese jugendliche Begeisterung erneut in ihr aufglühen, als sie 1699 in die niederländische Kolonie Surinam aufbricht. Ohne Mann, den hatte sie schon 15 Jahre zuvor verlassen, und lediglich in Begleitung ihrer jüngeren Tochter Dorothea Maria. Die künstlerische Arbeit und das Forschen hat sie zwar stets beharrlich verfolgt, doch die Expedition an die Nordküste Südamerikas war eine Steigerung, ein grandioses Abenteuer in einem ohnehin schon bemerkenswerten Leben.
Bereits mit 18 heiratet Sibylla Johannes Graff, einen ehemaligen Lehrling ihres Stiefvaters, dem sie brav in dessen Heimatstadt Nürnberg folgt. Doch statt im Haushalt aufzugehen, unterrichtet sie höhere Töchter im Zeichnen, und um dafür Vorlagen zu haben, veröffentlicht sie 1675 ihr „Neues Blumenbuch“. Außerdem handelt die clevere Geschäftsfrau mit Farben und Malutensilien, um die Familienkasse aufzubessern.
Wahrscheinlich hat sie aber auch Wert auf ihre Eigenständigkeit gelegt. Man kann das nur mutmaßen, denn Privates findet man nie in ihren Aufzeichnungen. In der Biografie der Historikerin Barbara Beuys, die sich stoisch an den Fakten entlanghangelt, bleiben notgedrungen einige Lücken. Etwa, was die Trennung von Graff betrifft, der seiner Angetrauten sogar noch ins niederländische Friesland nacheilt. Dort hat sich die Merian 1685 mit Mutter und Töchtern in die Labadisten-Gemeinde, eine frühpietistische Kommune mit Gütergemeinschaft, zurückgezogen.
Natürlich nicht für Ewigkeiten. 1691 drängt es die längst anerkannte Malerin nach Amsterdam, wo sie besseren Anschluss an die Wissenschaft und an botanische Sammlungen hat. Aus den Kolonien kommt ständig Nachschub, der häufig in den Orangerien betuchter Bürger zu bewundern ist. Insofern trifft Sibylla Merian mit ihren hoch ästhetischen Stichen auch einen Nerv der Zeit. Und die zielstrebige Frau knüpft schnell Verbindungen – vor allem, um nach Surinam zu gelangen.
Endlich am Ziel muss sie dann ein komisches Bild abgegeben haben. Denn die Merian rannte bei tropischer Hitze in ausladenden barocken Kleidern durch den Dschungel, um Schmetterlinge zu fangen! Nebenbei sammelte sie alles ein, was ihr reizvoll erschien: Schlangen, alle Arten von Insekten, Leguane, Geckos, Pflanzen und immer wieder Raupen. Sklaven aus Afrika und einheimische Indianer unterstützen sie bei den oft waghalsigen Ausflügen. Im Gegensatz zu vielen Forscherkollegen ihrer Zeit ist bei ihr auch nie von „unzivilisierten Wilden“die Rede.
Berühmt, aber arm
Schon nach zwei Jahren muss die Merian ihre Reise abbrechen, weil sie vermutlich an der Malaria erkrankt ist. Die Rückfahrt nach Amsterdam wird zur Qual, doch sie hält tapfer durch, denn ihr Opus magnum wartet noch: der sündteure Prachtband „Die Verwandlung der surinamischen Insekten“, der zu den schönsten Naturkundebücher überhaupt zählt. Dieses aufwändige Projekt führt allerdings auch in ein finanzielles Desaster. Als die einst so ausdauernde Merian 1717 mit fast 70 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls stirbt, ist sie längst eine Berühmtheit und wird doch armselig bestattet: ohne Grabstein auf einem kargen, mittlerweile aufgelösten Friedhof. Aber das passt zur religiösen Auffassung dieser ersten Ökologin. Und schließlich ist Maria Sibylla Merian dennoch präsent geblieben. Pflanzen, Schmetterlinge, Käfer und ein Wissenschaftspreis sind nach ihr benannt, sowie unzählige Schulen und Straßen. Und nicht zuletzt ziert ihr Porträt den alten Fünfhundertmarkschein. Auf der Rückseite ist ein Löwenzahn mit Raupe und Falter abgedruckt, was sonst.
Ausstellung: „Maria Sibylla Merian und die Tradition des Blumenbildes“, Städel Museum Frankfurt bis 14. Januar. Katalog, Hirmer Verlag, 39,90 Euro.