Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Was bleibt von der Bundestagswahl?
111 Tage nach der Wahl: Die Kandidaten über eine GroKo und die Rückkehr in den Alltag
KREIS BIBERACH - 111 Mal sind die Menschen in Biberach und Umgebung seit dem 24. September 2017 erwacht – und jedes mal ohne neue Regierung. Wie groß ist das Verständnis der Kandidaten des Wahlkreises Biberach für den politischen Stillstand? Schließlich haben sie über Monate hinweg bei Ortsbesuchen, Podiumsdiskussionen oder Infoständen um Stimmen geworben. Die „Schwäbische Zeitung“hat sie nach ihrer Meinung gefragt und wollte auch wissen, wie gut sie in den Alltag zurückgefunden haben.
Josef Rief (CDU) ist auch nach Wahlkampfende viel unterwegs gewesen: „Seit der Bundestagswahl habe ich über 85 Termine absolviert, wenn ich es grob überschlage.“Dabei habe er mitbekommen, dass die Menschen ungeduldig werden. Auch er spricht von einer „sehr, sehr langen Zeit“in Bezug auf die Regierungsbildung. Mit dem jetzt vorliegen Sondierungs-Papier, das Union und SPD aushandelten, zeigte sich der Kirchberger in einer ersten Reaktion am Freitag zufrieden: „Ich bin nicht euphorisch, aber Koalition bedeutet eben auch, Kompromisse einzugehen.“So hätte er sich beispielsweise ein Baukindergeld gewünscht, dagegen begrüßt er die angekündigten Steuersenkungen. Der 57-Jährige hofft, dass nun möglichst schnell eine Regierung zustande kommt: „Stillstand bedeutet Rückschritt.“
Martin Gerster (SPD) sieht „das Pendel in Richtung Koalition“zwischen Union und SPD ausschlagen, wie der 46-Jährige am Freitag nach einer Fraktionssitzung sagte. „Ich empfinde das Papier als ein überraschend starkes Ergebnis, weil sich viel Punkte aus dem SPD-Wahlprogramm wiederfinden.“Es würde unter anderem mehr in Rente, Pflege und den ländlichen Raum investiert. Jetzt komme es darauf an, wie die Delegierten über das Sondierungsergebnis befinden. Die Schuld, dass sich die Regierungsbildung länger hinzieht, sieht er nicht bei seiner Partei: „Bei den Jamaika-Verhandlungen ist viel Zeit auf der Strecke geblieben.“Die vergangenen Wochen seien anstrengend gewesen, weil es unter anderem viele Koordinierungsrunden gegeben habe oder der Ton im Parlament rauer geworden sei. Aber: „Ich freue mich darauf, meinen Heimatwahlkreis weiterhin in Berlin vertreten zu dürfen.“
Deutschland als stabiler Partner
„Ich war nie raus aus dem Alltag“, sagt Anja Reinalter (Grüne). Dennoch sei der Wahlkampf eine besondere Zeit gewesen – manchmal auch eine Belastung: Ehrenamt, Job und Familie unter einen Hut bekommen, sich auf Diskussionen vorbereiten oder schwierige Gespräche führen. „Das hat mich gestärkt“, sagt die 47Jährige. Politik betreibt sie weiter, wie zum Beispiel im Landesvorstand der Grünen: „Durch das gute Wahlergebnis habe ich das Gefühl, einen politischen Auftrag zu haben“. In der Kommunalpolitik, sie sitzt im Kreistag und Laupheimer Rat, bleibt sie aber parteilos: „In der Kommunalpolitik ist man gut beraten, wenn man keine Parteipolitik macht.“Dass es bislang keine Regierung gibt, ärgert sie, weil Deutschland anderen Ländern ein stabiler Partner sein müsse. Das nun alles auf eine GroKo hindeutet, empfindet sich als „schade“, weil es nicht den Wählerwille widerspiegle: „Ich hätte mir gewünscht, wenn Merken den Mut zu einer Minderheitenregierung gehabt hätte.“
Einer der Gründe, warum es keine neue Regierung gibt, ist das Platzen der Jamaika-Verhandlungen. „Es war richtig, nicht um jeden Preis in eine Jamaika-Regierung einzutreten“, sagt Tim Hundertmark, der für die FDP antrat. Er könne die Ungeduld der Wähler nur schwer nachvollziehen, weil das Ergebnis mit sechs Parteien im Bundestag eben differenziert ausgefallen sei: „So etwas braucht Zeit.“Eine mögliche Neuauflage der GroKo sieht der 35-jährige „sehr kritisch“, zumindest gebe es aber mit den Liberalen eine starke Opposition. Im Vergleich zur Landtagswahl 2016, hierbei war der Ummendorfer
ebenfalls Kandidat, sei der Bundestagswahlkampf zeitintensiver gewesen. Zum einen weil der Wahlkreis größer sei, zum anderen wegen der Vielfalt der Themen: „Ich habe sehr gut in den Alltag zurückgefunden, beruflich musste ich einiges aufarbeiten.“
Matthias Stiel (AfD) trat erstmals als Bundestagskandidat an: „Ich wollte die Dinge nicht mehr einfach so geschehen lassen.“Dass er sich einbringen konnte, habe ihm das Gefühl der Machtlosigkeit genommen. Während des Wahlkampfs habe er mit vielen Menschen gesprochen, die ihre ehrliche Meinung und Haltung sagten: „Jede dieser Meinungen muss uns wichtig sein. Und wir dürfen Sorgen nicht als irrationale Gefühle abstempeln, wie manche Politiker es machen, um ihre ParteienIdeologie nicht auf den Prüfstand stellen zu müssen“. Auf die Frage, ob er den Frust der Wähler über die Regierungsbildung verstehen kann, antwortet der 35-Jährige: „Naja, ich denke der Frust wird sich erst richtig zeigen, wenn die GroKo ihre Arbeit wieder aufnimmt. Der Bürger weiß, dass es keine Veränderung der Politik gegenüber den wichtigsten Fragen wie Migration, Asyl, und innere Sicherheit geben wird.“ Für den Kandidaten der Linken,
Ralph Heidenreich, war der Bundestagswahlkampf „ein kleiner Ausflug“in höhere politische Sphären: „Es war schon nett mit der berühmteren Riege wie Rief und Gerster auf dem Podium.“Illusionen darüber, einen Sitz im Bundestag zu bekommen, habe er sich nie gemacht. „Ich bin in der Kommunalpolitik Zuhause“, sagt der 60-Jährige, der für die Linke im Biberacher Gemeinderat sitzt. Sein Ziel während des Wahlkampfs sei es gewesen, „den Nahverkehr zu promoten“. Und dieses Thema wolle er weiter verfolgen. Dass es bislang keine neue Regierung gibt, ist für ihn verwunderlich: „Ich weiß nicht, wer Jamaika so kaputt geschossen hat. An den Inhalten kann es nicht gelegen haben, es muss ums Personal gegangen sein.“Aber: Wer Deutschland regiert sei ohnehin egal, denn eigentlich bestimme die Industrie die Politik.
Erkennen die Wähler noch „ihre“Kandidaten der Bundestagswahl 2017? Wir haben den Test gemacht. Das Video dazu finden Sie unter www.schwäbische.de/test-wahl