Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Das kindliche Selbstbewusstsein stärken
Damit der eigene Nachwuchs weder zum Opfer noch zum Täter wird
Für Eltern ist es der blanke Horror, wenn das eigene Kind gemobbt wird. Mütter und Väter können aber selbst viel tun, um das Selbstbewusstsein ihres Kindes zu stärken – und ihm das Gefühl zu geben, dass es sich mit allem an sie wenden kann.
Jürgen Rüstow reißt die Arme in die Luft und streckt die Finger aus. Sieben Kinder zwischen vier und fünf Jahren tun es ihm gleich. „Macht euch groß, so groß ihr könnt“, ruft er. Danach bittet er sie, durch den Raum zu gehen. Sie sollen jedem, dem sie begegnen, die Hand reichen. „Stellt euch dabei aufrecht hin und schaut euch in die Augen.“
Rüstow ist Persönlichkeitstrainer. In der Kindertagesstätte Wolkenzwerge in Berlin gibt er gerade ein Seminar zum Thema Selbstbewusstsein. Schon die Kleinsten sollen lernen, wie sie am besten mit Konfliktsituationen umgehen. Warum das Ganze? „Damit sie nicht zu Opfern werden“, erklärt der Coach, „und nicht zu Tätern.“Beides liegt nah beieinander. Wer permanent gepiesackt wird, haut mitunter selbst drauf, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt.
„Wehret den Anfängen“ist auch das Motto von Carsten Stahl. Er gibt Anti-Mobbing-Kurse an Schulen in ganz Deutschland und ist manch einem noch als Privatdetektiv aus einer RTL2-Sendung bekannt. „Früher fing Mobbing erst in der Grundschule an“, sagt er. „Heute geht es im Kindergarten schon los.“Deswegen hält auch Stahl es für wichtig, das kindliche Selbstbewusstsein von Anfang an zu stärken.
Entscheidungen respektieren
Babys werden für fast alles gelobt – das erste Anheben des Kopfes, das erste Umdrehen, die ersten Krabbelbewegungen. „Aber irgendwann nimmt das ab“, sagt Rüstow. Und das sei falsch. Wenn ein Kitakind ein Bild für seine Eltern gemalt hat, ist das eine große Sache, findet Stahl. „Die Eltern sollten das nicht einfach abtun, sondern äußern, dass das Kind etwas Tolles geschafft hat“– auch wenn die Leistung aus Sicht der Erwachsenen vielleicht nicht so bahnbrechend ist. Doch das heißt andererseits nicht, dass jede Kleinigkeit überschwänglich gefeiert wird.
Wichtig für ein gesundes Selbstbewusstsein sei zudem die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Das fängt früh an, sagt Rüstow. Dann nämlich, wenn ein Kind etwas nicht möchte, das die Eltern von ihm verlangen. „Das Kind bockt, heißt es dann. Ich mag dieses Wort schon nicht.“
Ein typischer Fall: Das Kind möchte der Oma kein Küsschen geben. Den Eltern ist das häufig peinlich. „Aber da lohnt es sich, nachzugeben“, rät der Coach. Denn: Nur so lernt das Kind, dass sein Gefühl etwas wert ist und dass seine Entscheidungen respektiert werden. Das gilt vor allem, wenn es um den eigenen Körper geht.
Auf diese Weise stärken Eltern ihre Kinder zum Beispiel für den Fall eines sexuellen Übergriffs. Meist findet ein solcher in der Familie oder im Bekanntenkreis statt, „und häufig sind es zunächst nur Berührungen“, sagt Rüstow. Aber die Kinder spüren instinktiv, dass das nicht in Ordnung ist. Haben sie gelernt, dass ihr Gefühl sie nicht trügt und dass sie „Nein“sagen dürfen, tun sie das viel eher, als wenn ihnen immer alle Entscheidungen abgenommen wurden.
Besonders gefährdet, Opfer zu werden, sind schüchterne, zurückhaltende Kinder. Täter schauen unbewusst: Wer scheint schwächer zu sein als ich? Genau da setzt Rüstow mit seinem Training an. „Man kann kleinen Kindern nicht erklären: ,Fühl dich mal stärker.’ Die müssen das spüren.“Deswegen macht er Rollenspiele mit den Kindern. Aufrecht hinstellen, sich groß machen, dem anderen in die Augen schauen und laut sprechen – solche Dinge übt er schon mit den Kleinsten. Das hilft nicht nur dabei, selbst nicht zum Opfer zu werden, sondern stärkt Kinder auch, damit sie sich einmischen. „Manche werden Opfer, andere Täter – aber die meisten schauen einfach weg oder lachen mit.“Mutige Kinder schaffen es, stopp zu sagen, wenn andere gehänselt werden. Und wenn da keiner mehr ist, der lacht, wird das Gepiesacke für die Täter irgendwann öde.
Vertrauen schaffen
Eine Garantie dafür, dass das eigene Kind niemals Opfer von Mobbing wird, kann es aber nicht geben, betont Stahl. „Fast jeder wird in irgendeiner Form damit konfrontiert“, ist seine Erfahrung. „In meinen Kursen an den Schulen sind es neun von zehn Kindern.“Deshalb ist entscheidend, dass das Kind sich traut, mit den Eltern, Lehrern oder Erziehern zu sprechen, wenn es sich im Klassenverband unwohl fühlt.
Stahl hat die Erfahrung gemacht, dass es hilft, den Kindern die eigene Geschichte zu erzählen. Wurde der heute als so stark empfundene Papa früher auch gehänselt, fällt es dem Kind leichter, darüber zu reden. „Das öffnet einen Raum“, sagt Stahl, der als Kind selbst zuerst Opfer und dann Täter wurde.
Rüstow rät Eltern, schon im Kleinkindalter abendliche Gespräche über den Tag zu etablieren. Dabei sollte Schönes, aber auch Frustrierendes zur Sprache kommen. Das Kind wird vielleicht äußern, dass es seine Puppe nicht gefunden hat oder das Lieblingsspielzeug in der Kita gerade nicht frei war. „Das müssen die Eltern ernst nehmen.“So wird es für Kinder zur Selbstverständlichkeit, auch über unangenehme Dinge offen zu sprechen.
Vertraut sich ein Kind den Eltern tatsächlich an, weil es in der Kita oder der Schule geärgert wird, gilt es, das erstmal hinzunehmen. „Auf keinen Fall Sätze wie ,Reiß dich mal zusammen’ oder ,Sei ein Mann’ sagen“, warnt Stahl. Und keine Vorwürfe à la „Warum bist du nicht schon früher zu uns gekommen“machen, ergänzt Rüstow.
Stattdessen sollten Eltern mit dem Kind besprechen, wie man weiter vorgehen könnte: Sollen sie einen Lehrer ansprechen? Den oder die Täter zur Rede stellen? Zum Anwalt oder der Polizei gehen? Egal, was sie tun: Es geht nur mit dem Einverständnis des Kindes. „Missbrauchen die Eltern das Vertrauen, vertraut das Kind am Ende niemandem mehr“, warnt Rüstow. Ein erster Schritt kann auch sein, die Opferhilfe zu kontaktieren. Der Weiße Ring, das Mobbingtelefon oder das Kindernottelefon sind ebenfalls Ansprechpartner. Übrigens auch, wenn das eigene Kind zum Täter geworden ist.
Im Ernstfall eingreifen
In der Kita Wolkenzwerge liegt die kleine Charlotte mittlerweile auf einem Holzbrett. Die anderen sechs Kinder und der Coach halten es mit ihren Händen in die Höhe. Die Vierjährige schaut zunächst etwas ängstlich, dann entspannt sie sich. Mission erfüllt: Ziel der Übung sei, dass die Kinder lernen, sich aufeinander zu verlassen. Sie sollen spüren, dass es schön ist, wenn die Gruppe zusammenhält. Viel schöner, als wenn einzelne auf anderen herumhacken – und der Rest noch darüber lacht.