Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Zeichen setzen
Jahrhundertelang hat der zivilisierte Mensch zumindest mit Skepsis auf tätowierte Leutchen geblickt. Ganz natürlich kam ihm der Körperschmuck indes bei Seefahrern oder auch Zuchthäuslern vor. Deutlich komplizierter ist es mit Tätowierungen im Hier und Heute geworden, wo sich die Verhältnisse im Prinzip auf den Kopf gestellt haben, sodass aktuell als revolutionär gilt, wer seinen Leib gänzlich unbestochen lässt. Dabei hat die Tätowierungs-Inflation tatsächlich ihre Schattenseiten. Weil das berühmte Mutterherz von einst eher aus der Mode gekommen ist, suchen alte wie junge Menschen, die sich zum Zwecke der Selbstverzierung zu einem TattooKünstler begeben, nach extra neckischen Motiven. Und weil Vorlagen unseres Kulturkreises inzwischen alle schon auf menschliche Haut gestochen zu sein scheinen, orientieren sich Trendsetter am asiatischen
Raum. Immer beliebter werden fernöstliche Schriftzeichen. Aber Obacht: Wer sich etwas Poesie als Arschgeweih stechen lassen will, muss damit rechnen, dass er beim ohnehin schon kompliziert-verrenkten Blick in den Spiegel eine sinnentstellte weil spiegelverkehrte Aussage zu sehen bekommt. Auch gefährlich: Ein gehässiger Tätowierer, der seinen Kunden darüber im Unklaren lässt, dass es sich bei den verwendeten Schriftzeichen nicht um ein prosaisches „Ich liebe Dich“handelt, sondern um „Fahrräder abstellen verboten“oder „Kehrwoche“. Da lacht der Tätowierer und der Chinese wundert sich. Wie altmodische Seeleute und Zuchthäusler zu diesem Trend stehen, weiß niemand. (nyf)