Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Mehr als ein Dach überm Kopf
16. Architekturbiennale in Venedig unter dem Titel „Freespace“eröffnet
VENEDIG - Mit der 16. Architekturbiennale unter dem Motto „Freespace“beginnt am heutigen Samstag in Venedig die weltweit wichtigste Ausstellung zur Baukunst. Und schön: Das irische KuratorinnenDuo orientiert sich vor allem an den Menschen.
Das sehr abgegriffene Wort Wellness liegt einem auf der Zunge. Die vielen Polster und Sitzinseln sind jedenfalls nicht zu übersehen, und wenn man Glück hat, ist draußen unter der Pergola-Konstruktion mit dem poetischen Titel „Bamboo Stalactite“noch ein orangefarbenes Sofa frei – direkt am Wasser, das heißt, am Arsenalebecken. Man soll sich hier wohlfühlen, um erfrischt und mit neuer Energie weiterzuziehen. Damit erfüllt diese Oase eines vietnamesischen Büros (VTN Architects) bereits ein ganz entscheidendes Kriterium für gute Architektur. So sehen es zumindest Yvonne Farrell und Shelley McNamara, die Kuratorinnen der 16. Architekturbiennale, die bis 25. November in der Lagunenstadt zu sehen ist.
Gutes sieht gut aus
Mit dem Titel „Freespace“haben die beiden Frauen aus Dublin allerdings für Verwirrung gesorgt. Die Übersetzung „Freiraum“greift viel zu kurz, Farrell und McNamara meinen in erster Linie eine Großzügigkeit und Freiheit im Denken, durchaus auch: die Fantasie von der Leine zu lassen. Was dann auf dieser bedeutendsten internationalen Architekturausstellung vorgeführt wird, sind keine abgefahrenen Experimente und schon gar kein Höher-Größer-Weiter. Farrell und McNamarra interessieren sich für die soziale Dimension von Architektur, für Nachhaltigkeit – „das ist viel mehr als ein Solarpaneel in Szene zu setzen“–, das Zusammenspiel mit der Natur, die Wahl adäquater Materialien, bewährtes Handwerk.
Individuelle Lösungen
Das geht schon damit los, dass im Hauptpavillon der Giardini schlichte, handgemachte Fliesen verlegt sind, die farblich wie formal ein wunderbares Gegenstück zu Galileo Chinis 1909 entstandenem Deckengemälde einer neuen Gesellschaft bilden. Am Werk war das Londoner Architekturkollektiv Assemble, das durch partizipative Projekte bekannt wurde und ganze Stadtteile mit den Bewohnern plant. Dass Gutes gut ausschauen kann, beweisen genauso die „Star Apartments“von Michael Maltzan in einem der Nachbarräume: In Los Angeles kommen hier Familien unter, die sich eigentlich gar keine Wohnung leisten können. Und die Modell-Räume mit ihren sehr individuellen Einrichtungen zeigen, dass die verschiedensten Menschen weit mehr als ein Dach überm Kopf gefunden haben.
Mit ihrer klaren sozialen Komponente knüpft diese Architekturbiennale geschickt an die letzte von 2016 an. Für den chilenischen Kurator Alejandro Aravena waren das Bauen am Rande der Gesellschaft und die Wahl möglichst einfacher, ökologischer Materialien zentrale Themen. Seine irischen Nachfolgerinnen verfeinern diese Ansätze und weiten den Blick über dessen „Kampf an der Front“hinaus.
Bewohner bestimmen den Raum
Das Zusammenleben steht immer wieder im Mittelpunkt, wie zum Beispiel im „Tila House“in Helsinki mit seinen offenen Räumen. Wobei die konkrete Gestaltung von den Bewohnern ausgeht. „Die wissen schließlich, was sie brauchen“, finden Talli Architects, „wir liefern nur die Basis.“In einer anderen Weise offen ist Takaharu Tezukas ovaler, lichtdurchfluteter Kindergarten um einen Innenhof mit beträchtlichen Dimensionen. Sogar das Dach dient als Spielplatz – die Energie der Kinder sei ohne Grenzen, meint der Architekt, warum sie also einschränken?
Ganz entspannt geht es dagegen in der zarten Vorhang-Rotunde des japanischen Visionärs Toyo Ito zu. Auf Sitzsäcken darf man das feine Spiel des Sonnenlichts verfolgen, das von draußen durch die Stoffbahnen fällt – auch das Ego des Architekten hat hier mal Pause. Schräg gegenüber verblüfft der Italiener Riccardo Blumer mit schillernden, höchst fragilen Sekunden-„Scheiben“, die aus Seifenlauge gezogen werden. Solche Bilder bleiben haften, auch als Symbole für die Magie der einfachen Ideen, die Architektur verbessern können. Es muss eben keine Materialschlacht sein.
Viel Holz, wenig Beton
Überhaupt ist diese Biennale angenehm stahl- und betonarm, stattdessen sieht und riecht man viel Holz. Das betrifft besonders die durchaus anregenden Modelle, die in der Sektion „Close Encounter“einen originellen Auftritt haben. Hier sollten sich 16 Architekten mit einem jeweils historischen Bauwerk auseinandersetzen. Unter anderem ist ein Miniatur-Konzertsaal samt Klavier entstanden. „Ich werde euch einen Raum bauen, der wie eine Violine singt“, steht außen zu lesen. Der Spruch stammt vom Architekten des (wirklich fabelhaften) Pariser Cortot-Saals, Auguste Perret – und man hätte sicher nicht nur in München gerne das Rezept. Es sind auch solche Details, die den Reiz dieser Großausstellung ausmachen. Vor allem aber nimmt man den Optimismus der beiden Kuratorinnen mit. Für Yvonne Farrell und Shelley McNamara, die seit 1978 das gemeinsame Büro Grafton mit einigem Erfolg führen, ist Architektur Arbeit für den Menschen und eine bessere Zukunft, Pessimismus sei da völlig fehl am Platz. Warum vergessen das nur so viele aus ihrem Metier?
Architekturbiennale, Venedig bis 25. November,