Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Es gibt keine Großen mehr
Favoriten starten schleppend ins Turnier – Kollektives Stolpern spült andere Teams hinauf
MOSKAU (dpa/SID) - Der Weg zum angestrebten WM-Triumph wird für die stolpernden Top-Favoriten endgültig kein leichter mehr: Erst dreimal in der Historie der Weltmeisterschaften feierte der spätere Titelgewinner zuvor keinen Sieg in seinem Auftaktspiel. Und so stehen nicht nur Deutschland nach der MexikoPleite, sondern auch Brasilien, Spanien und Argentinien ohne DreiPunkte-Erfolg zum Start schon früh in der Vorrunde unter Druck. Warum tun sich die führenden Fußball-Nationen so schwer in Russland?
„Sorge für die Großen“, titelte „L'Equipe“mit Fotos der niedergeschlagenen Mesut Özil und Neymar. Als Gruppensieger würden sich die Teams der beiden Stars zunächst in der K.o.-Runde aus dem Weg gehen. Doch das maue 1:1 gegen die Schweiz sorgt auch im Land des fünfmaligen Weltmeisters für erste Verzweiflung. „VERWIRRT“, titelte die Sportzeitung „Lance“. Doch setzt sich bei der WM nur das fort, was bereits bei der Europameisterschaft vpr zwei Jahren begann. Die vermeintlich kleinen Nationen setzten auf Zerstörung, sichere Abwehrarbeit und wenige, dafür erfolgreiche Offensivaktionen.
Dass sowohl Brasilien, als auch Deutschland und Argentinien (1:1 gegen Island) zum Auftakt ohne Sieg bleiben, ist ein negatives WM-Novum, gab es bei 15 vorigen gemeinsamen WM-Teilnahmen noch nie. Was den Südamerikanern, vor allem den Brasilianern, aufgrund des 1:7-Traumas ihrer Heim-WM 2014, jedoch Hoffnung gibt, ist die 0:1 (0:1)-Pleite von Deutschland gegen Mexiko. Da wirken die eigenen Fehler nicht mehr ganz so gravierend. „Das Remis wirft uns nicht aus der Bahn, schließlich gab es große Nationen, die schon verloren haben“, sagte Brasiliens Verteidiger Miranda.
Vieles machte Spanien zwar besser, gewinnen konnten die Iberer aber trotzdem nicht, weil Portugals Cristiano Ronaldo beim 3:3 (1:2) sein Team alleine auf den starken Schultern trug. Dennoch stimmte beim Weltmeister von 2010 trotz des Spontanrauswurfs von Ex-Trainer Jorge Lopetegui vieles. Die Sportzeitung „AS“attestierte der Mannschaft „Charakter“. Spielerisch gibt es ohnehin kaum eine bessere. Paradox verhielt es sich mit Frankreich. Da gewannen die Franzosen, als einziger Favorit überhaupt, mit 2:1 (0:0) gegen Australien, doch zufrieden konnte keiner sein. Von Torlinientechnik und Videobeweis begünstigt schleppten sich die Jungstars um Kylian Mbappe reichlich unattraktiv über die Ziellinie. „Unsere Offensive war nicht so gut, wie sie sein sollte“, gab Trainer Didier Deschamps zu, „es war nicht genug Fluss im Spiel, wir waren nicht schnell genug.“
Dabei sehen sich die Favoriten häufig mit einer ähnlichen Spielsituation konfrontiert. Die Top-Teams hatten teils deutlich mehr Ballbesitz – Deutschland 61 Prozent, Spanien 62 Prozent, Argentinien sogar 72 Prozent. Zugleich zogen sich die Gegner zeitweise immer wieder in einer taktischen Variante mit zwei defensiven Mittelfeldspielern zurück, machten die Räume aus einer dicht gestaffelten Verteidigung eng und konterten überfallartig. Vor allem Mexiko und Portugal hielten dabei aber auch spielerisch mit den Favoriten mit.
Zweite Reihe drängt nach oben
„Wir werden immer eine Mannschaft sein, die mehr den Ball hat als der Gegner – auch wenn wir uns andersrum vielleicht leichter tun würden“, analysierte Thomas Müller das Dilemma für die spieldominanten Teams. „Aber die Gegner tun uns leider den Gefallen nicht.“
In Russland sorgt bislang eher die zweite oder dritte Reihe der Mannschaften für Furore. So wollen Russland, Kroatien oder Serbien ihre Gruppen auch jeweils als Spitzenreiter abschließen. „Niemand jagt irgendjemanden Angst ein in Russland“, schrieb die spanische „Marca“. „Im Gegenteil. Diese WM hat mit den Mittelklasseteams begonnen, die große Ziele haben und davon träumen, am 15. Juli eine Überraschung zu schaffen.“
Doch für Spekulationen über einen Finaleinzug der Außenseiter oder einen Abgesang auf die Top-Nationen ist es noch zu früh. Drei Teams machten es vor: England 1966 nach einem 0:0 zum Auftakt gegen Uruguay und Italien 1982 ebenfalls nach einem torlosen Unentschieden gegen Polen wurden noch Weltmeister. Und auch Spanien weiß wie es geht: Vor acht Jahren erholten sich die Iberer von einem 0:1 gegen die Schweiz – und stürmten zum Titel.